Der 15. Oktober ist vielleicht der düsterste Jahrestag der ungarischen Geschichte. Genau vor 60 Jahren kündigte der Staatschef Miklós Horthy den Ausstieg des Landes aus dem Krieg an. Jubelnde Menschen versammelten sich auf den Straßen, die noch lebenden Juden atmeten auf. Einige Stunden später jedoch übernahmen die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler die Macht - eine "fünfte Kolonne" des Dritten Reiches. Sie versprachen ihren Verbündeten, im "totalen Krieg" bis zum Ende mitzumarschieren. Das Ergebnis: Fortsetzung der Deportation, Zehntausende weiterer Tote, eine zerstörte Stadt und eine bis heute nicht vollständig aufgearbeitete Tragödie.
Im Frühjahr 2004 meldete sich eine 26-jährige Studentin, Diána Bácsfi, zu Wort: Sie gründete eine Gruppe namens "Ungarische Zukunft", die sich voll mit den Wahnideen des Pfeilkreuzlerführers Ferenc Szálasi identifiziert. Sechs Jahrzehnte nach dem Holocaust, am Tag der "hungaristischen Revolution" sollte die Machtergreifung durch Hitlers hiesige Gefolgsleute mit einer Kundgebung gefeiert werden - eine selbst in der Geschichte der Neuen Rechten in Ungarn bisher noch nicht dagewesene Absurdität.
Die Mitglieder der Gruppe, an die 200 Personen, leisteten fleißige Vorarbeit: Sie fertigten Tausende von Großplakaten mit dem Bild ihres Idols Szálasi an, der 1946 als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt worden war, ließen die berüchtigten grünen Uniformen der ungarischen Nazis nähen, gaben bei bekannten Privatfirmen die Herstellung von Abzeichen mit der ungarischen Version des Hakenkreuzes in Auftrag und sorgten dafür, dass eine Reprintausgabe von "Szálasis Reden" rechtzeitig die Schaufenster bestimmter Buchhandlungen "schmückte". Gleichzeitig reichte eine organisationstüchtige junge Anhängerschaft bei der Landespolizeibehörde ein Demonstrationsdrehbuch ein. Der Plan sah folgendermaßen aus: Der Zug der "Zukunftisten" sollte durch die Budapester Innenstadt zur ehemaligen Zentrale der Pfeilkreuzler führen. Dort, vor dem Museum "Haus des Terrors", sollte die Pfeilkreuzlerhymne erklingen und die Szálasi-Fahne gehisst werden. In einer Rede plante die Führerin, der "Heldentaten" ungarischer Nazis zu gedenken.
Die Polizei genehmigte die Demonstration zunächst. In ihrer Begründung berief sie sich auf die "Demokratie" - ständig wiederkehrende Legitimation für die Duldung antisemitischer und rassistischer Äußerungen und Aktionen seit der Wende.
Verleger von Naziliteratur, Hassreden über das "parlamentarische Sprungbrett des liberalen ungarischen Judentums", die "dahergelaufenen Scharen aus Galizien", über "jüdische Schriftsteller mit schädlicher Holocaust-Thematik" und "hemmungslose jüdische Geschäftsleute" - all das war für die Justiz bislang irrelevant. Auch das Verbrennen der israelischen Fahne bei einer öffentlichen Veranstaltung oder unlängst das Bemalen der Churchill-Statue mit roter Lackfarbe sowie die Szalasi-Plakataktion inspirierten das Landgericht nicht, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzuweichen. Im Sinne des Versammlungsrechts könnten alle Gruppierungen ungeachtet ihrer politischen Intention auf die Straße gehen, sofern diese Demonstrationen angemeldet sind. Die Polizei schreitet erst ein, wenn es zu Straftaten kommt.
Dass Diána Bácsfi in rechts eingestellten Zeitschriften oder vor laufenden Kameras von Journalisten den Zeitgeist vom Herbst 1944 hochleben lässt, weist auf eine gestörte Persönlichkeit und eine schwache Verankerung der demokratischen politischen Kultur hin. In einer der populärsten Talk-Shows im ungarischen Fernsehen schenkte ihr der Moderator Bácsfi am Ende des Gesprächs ein Buch über den Holocaust, woraufhin sie eines über die Pfeilkreuzler aus ihrer Tasche zog.
Während sich die 100.000 Mitglieder starke jüdische Gemeinschaft hinsichtlich des realen politischen Antisemitismus im Lande zwangsläufig "trainiert" zeigte und lediglich zum Tragen des gelben Sterns während der Demonstration aufgerufen hatte, setzten die politischen Parteien das Vorhaben der Hungaristen als Waffe gegeneinander ein. Aus der aktuellen Bedrohung der verfassungsmäßigen Ordnung wurde eine Parlamentssache, doch die Abgeordneten aller Fraktionen waren sich noch im September darin einig, dass das Versammlungsgesetz nicht kurzfristig innerhalb eines Monats modifiziert werden könne. Im Klartext: Nazikundgebung, ja. Eine merkwürdige Denkweise, hatte doch die Regierung in diesem Jahr die Demonstrationen für den Frieden im Irak und in Tibet einstimmig und ohne Wenn und Aber verboten.
Dennoch gab es eine glückliche Wende. Die Tageszeitung "Népszava" organisierte am 8. Oktober eine gut besuchte Veranstaltung unter dem Motto "Mit Blumen gegen die ungarischen Neonazis" vor dem "Haus des Terrors", der allerdings auch Diána Bácsfi und ihre Mitstreiter nicht fernblieben. Sie tauchten unvermittelt auf und versuchten, Plakate mit Hakenkreuzen zwischen den Blumen zu platzieren. Anwesende Fotografen und Journalisten wurden von Frau Bácsfi mit dem Hitlergruß bedacht. Erst jetzt fühlten sich die Ordnungshüter angesprochen und brachten sie aufs Polizeirevier. Es kam zum Dominoeffekt. Die politischen Parteien riefen zu Gegendemonstrationen auf, wohlgemerkt nicht gemeinsam, sondern im Zeichen der gut eingeübten und langjährig praktizierten ungarischen Ad-hoc-Politisierung streng getrennt. Die oppositionellen Rechtskonservativen unter Viktor Orbán entschieden sich für eine Kranzniederlegung am Denkmal des evangelischen Pfarrers Gábor Sztehlo, eines antifaschistischen Märtyrers, der im Herbst 1944 Kinder vor der Deportation zu retten versucht hatte, die Regierungsparteien der Sozialisten und der Freien Demokraten hingegen baten ihre Anhänger, zum "Haus des Terrors" zu kommen. Die Direktorin des Museums ordnete für den 15. Oktober die Schließung ihres Hauses an. Zivile Organisationen, Gewerkschaften und jüdische Vereine kündigten ihre Anwesenheit auf dem Heldenplatz an.
Das Parlament war erst am 12. Oktober so weit: Die Parteien unterzeichneten ein gemeinsames Papier gegen die Verbreitung rassistischer, den Holocaust leugnender Ideologien. Die Veröffentlichung dieser 20 Seiten erfolgte mit solcher Reverenz, als ob diese zwischenparteiliche Einigung einen neuen Zeitgeist in der 1000-jährigen Geschichte des Landes markierte.
Zwei Tage später genehmigte die Polizei auf Einspruch des Budapester Oberbürgermeisters die Demonstration der Koalitionsparteien in dem bereits von den Neonazis "gebuchten" Straßeneck. Diese Terminkollision interpretierten die Neonazis als Verbot und fühlen sich in ihrem Spielraum zunehmend eingeengt, da Frau Bácsfi an besagtem Jahrestag noch hinter Gittern bleiben würde.
Am 15. Oktober regnete es in Budapest in Strömen. Um 16 Uhr versammelten sich mehrere tausend Menschen auf dem Heldenplatz, unter ihnen Juden und Roma, viele mit gelben Sternen an ihren Mänteln, um 18 Uhr erreichten mehr als 10.000 Menschen mit Blumen und Kerzen in der Hand die ehemalige Zentrale der Pfeilkreuzler. Ferenc Gyurcsány, dem neuen Ministerpräsidenten, gelang es, das "Forum der Linken Regierungen" am Plattensee rechtzeitig zu verlassen, um vor den Massen eine Rede zu halten. Nur die Rechtskonservativen demonstrierten in Buda. Ihre Reden richteten sich hauptsächlich gegen die Rivalen in der Regierung. Die Anhänger der "Ungarischen Zukunft" blieben zu Hause. An die 100 Aktivisten anderer rechtsradikaler Gruppierungen versammelten sich auf dem Freiheitsplatz, vor dem sowjetischen Kriegsdenkmal. Ihre Redner machten sich, solange es die Behörden duldeten, über die Juden lustig.
So viele Umleitungen und Polizisten gab es auf den Budapester Straßen wahrscheinlich in den letzten Jahren nicht, obwohl es insbesondere in der Legislaturperiode der Rechtskonservativen mehrmals gelungen war, Hunderttausende Menschen auf die Straßen zu locken. Die damaligen Mobilisierungsaktionen waren fundierter vorbereitet: Ort und Stelle sowie das Ziel der Veranstaltungen wurden meistens bereits einen Monat vor dem Ereignis bekannt gegeben, und von der damaligen Regierung gemietete Busse brachten die Massen aus der Provinz rechtzeitig in die Hauptstadt.
Am Vormittag des 15. Oktobers kommunizierten Hunderte von Teilnehmern des jüdischen Internetforums "Second Generation" miteinander. Ihre Diskussion drehte sich um die große Frage: hingehen, und wenn ja, mit gelbem Stern oder ohne. Aus den Beiträgen ging hervor, dass diese mittlere Generation sich teilweise im Namen ihrer verstorbenen oder überlebenden Eltern beleidigt fühlt. Beleidigt, weil sie genau verstehen, dass das Szenario des Tages auf eine erzwungene politische Raison zurückzuführen ist. Neu war die massenhafte Präsenz der Romavereine, deren Mitglieder ebenfalls mit gelben Sternen erschienen.
In den Abendstunden herrschte in diesem Chatforum eine wahrhaft trübe Stimmung. Auf beiden Seiten kritisierten die Politiker mit Recht den Medienrummel um die Neuhungaristen, und das nahmen die jüdischen Beobachter übel, versuchte man doch, die neonazistische Bedrohung herunterzuspielen.
In der Tat waren die Ansprachen dem Anlass nicht angemessen: Die Rechtskonservativen verloren mehr Worte über die Retter als über die Opfer, und die Sozialisten mussten ständig auf die Uhr blicken, weil am gleichen Abend einige Straßen weiter ihr Parteitag feierlich eröffnet wurde. Dort warteten interessantere Themen auf sie: Der Weg aus der Krise, die Ernennung des neuen Parteichefs und die Verabschiedung des neuen sozialdemokratischen Programms. Ferenc Gyurcsány, der bei der erwähnten internationalen Konferenz ein Streitgespräch zwischen Blair und Zapatero über die Lage im Irak moderiert hatte, wirkte erschöpft und war sich wahrscheinlich dessen nicht bewusst, dass er, als designierter Staatschef, erstmals vor einer größeren Menschenmenge auftrat.
Den erschreckenden Vorzeichen zum Trotz ging der 60. Jahrestag der Machtübernahme durch die ungarischen Nazis äußerlich als eine einheitliche antifaschistische Massenkundgebung in die Geschichte der jungen ungarischen Demokratie ein. Von einem Durchbruch politischer Kultur kann allerdings keine Rede sein: Diána Bácsfi zeigte die Polizeibehörde wegen der doppelten Vergabe des Demonstrationsplatzes an und drohte damit, demnächst auf einem christlichem Friedhof eine Versammlung einzuberufen. In der Internetzeitung der Neuhungaristen wird die Leserschaft darauf aufmerksam gemacht, dass die "Heimat genauso zurückerobert werden muss, wie diese ihnen genommen wurde: leise, systematisch und mit Durchhaltevermögen", wobei das letzte Wort mit dem Szalasi-Gruß identisch ist.
Leider entsteht der Eindruck, dass sich die Politiker in dem 10-Millionen-Land eher auf die nächste Parlamentswahl 2006 konzentrieren. Die Konfrontation mit den Szálasi-Anhängern ist Pflichtprogramm für das EU-Mitglied, und in diesem Sinne versucht das Parlament, "political correct" zu wirken.