In der 23 Millionen Menschen umfassenden multinationalen Habsburger Monarchie lebten um 1800 ungefähr zehn Millionen Ungarn. Die Kaiser und Kaiserinnen in Wien schmückten sich seit 1526 mit der ungarischen Krone, das Zentrum des politischen Lebens befand sich am Wiener Hof. Angehöriger des ungarischen Hochadel zu sein, bedeutete zugleich eine unvermeidliche Verbindung zum Herrscherhaus.
Als Stephan von Széchenyi im Jahre 1791 auf die Welt kam, blickte seine Sippe bereits auf eine alte höfische Tradition zurück. Die Széchenyis waren 1697 von Kaiser Leopold I. als Dank für die Teilnahme an der Gegenreformation und für ihre Treue zur Habsburger-Dynastie in den Grafenstand erhoben worden.
Der überaus begabte, multilingual, jedoch im ungarischen Geist erzogene Stephan stellte seine Loyalität rasch unter Beweis: Im Alter von 22 Jahren finden wir den jungen Grafen auf dem Schlachtfeld vor Leipzig im Bündnis gegen Napoleon. Sein militärisches Handwerk lernte er in einem Husarenregiment in Mähren und in Ostungarn. Je mehr er sein Vaterland kennen lernte, desto stärker waren seine magyarischen patriotischen Gefühle. Dennoch war sein Leben zunächst durch die Hingabe zu österreichischen Persönlichkeiten geprägt. Feldherr Fürst Carl Schwarzenberg, Staatskanzler Clemens Metternich und Generalfeldmarschall Fürst Windisch-Graetz zählten zu seinen "Paten".
1814 übertrug der Vater Graf Franz Széchenyi die Stammesgüter in Zinkendorf (südöstlich von Wien) an seine Söhne. Stephan begann, ein Tagebuch zu führen, und verlegte seinen Wohnsitz nach Pest. Von nun an wurde er zum Stadterneuerer und Reformator. Die unentwickelten Siedlungen Buda und Pest, wo bis 1686 türkische Paschas regierten, galten als verstaubte Provinznester, wo praktisch nur die deutsche Sprache zu hören war. Zunächst bereiste der Graf die weiter entwickelten Länder Europas, sammelte Erfahrungen, vertiefte sein technisches Können und reichte erst 1826 sein Abschiedsgesuch bei den Militärbehörden ein.
In jenem Jahr trat der mittlerweile zum Politiker avancierte Széchenyi im Pressburger Landtag auf, der nach langer Pause wieder als höchstes politisches Forum des ungarischen Adels galt und als Bindeglied zwischen den Komitatsversammlungen und dem Wiener Monarchen fungierte. Für den Erfolg dieses Auftritts sorgte nicht der bloße Inhalt seiner Rede. Der Autor, Journalist bei der "Neuen Zürcher Zeitung" und literarische Übersetzer schreibt:
"Zum anderen äußerte sich der Graf nicht lateinisch, sondern in ungarischer Sprache, was vor ihm in der Magnatentafel seit Menschengedenken niemand getan hatte." Metternich beharrte später darauf, dass zwischen diesem Landtag und der Revolution 1848 eine "direkte Linie" verlief.
Széchenyis Vorschläge wurden bald in die Tat umgesetzt; die Entwicklung Ungarns nahm sichtbare Konturen an: Die Entstehung der Akademie der Wissenschaften, des Casinos als Club für freie Diskussionen, die "Flussregulierung", der Beginn der Schifffahrt auf und nicht zuletzt der Bau der Kettenbrücke über die Donau gehören zu seinen bahnbrechenden Aktivitäten, über die heute jedes Schulkind in Ungarn Bescheid weiß.
Auch sein 1830 veröffentlichtes Werk "Kredit" machte Furore und wurde zugleich zum ersten Bestseller auf dem ungarischen Büchermarkt. Gelesen haben das Buch allerdings in erster Linie die Magnaten, denen Széchenyis Forderung, den Leibeigenen Ankaufsrechte auf Boden zu gewähren, ein Dorn im Auge war. Sie fühlten sich von Széchenyi ohnehin gedemütigt, da der unermüdliche Reformator seit Jahren für die Steuerpflicht des Adels plädierte.
Während Széchenyi seine Initiativen großenteils aus seinem Privatvermögen finanzierte und stets im Rahmen der Gesamtmonarchie agierte, meldeten sich in den Jahren des Vormärz andere Personen zu Wort, unter anderem der spätere Revolutionsführer Lajos Kossuth. Die Forderungen der revolutionären "Märzjugend" von 1848 zielten letztlich auf die Trennung Ungarns vom Wiener Hof.
Oplatka zeichnet in seiner Biographie feinfühlig und detailliert die Persönlichkeit und das Lebenswerk des labilen, kranken und überaus enthusiastischen Stephan von Széchenyi nach: als Soldat, Weltreisender, Lebemann, Gatte, Vater mehrerer Kinder, Stadtentwickler, Autor, Minister für Verkehr und die letzen zehn Jahren bis zu seinem Tod 1869 als Patient der Döblinger Nervenheilanstalt. Aktualität besitzt das Thema nicht nur dadurch, dass die ungarische konservative Regierung von Viktor Orbán (1998 - 2002) ihr Wirtschaftsprogramm nach dem Reformator Széchenyi benannte. Die an Osteuropa interessierten deutschen Leser werden in diesem Band neben einer eingehenden Analyse der damaligen Zeit und der Vorstellungen der Zeitgenossen auch manche Anspielung auf den heutigen Diskurs finden. Andrea Dunai
Andreas Oplatka
Graf Stephan Széchenyi.
Der Mann, der Ungarn schuf.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004;
528 S., 25,90 Euro