Die Sorge, als EU-Ratsvorsitzender ab Januar 2005 einer schwachen oder nicht handlungsfähigen Kommission gegenüber zu stehen, trieb ihn genau so an wie die Befürchtung, Barroso könnte das Handtuch werfen - und erneut käme auf den Luxemburger der Ruf zu, Retter in der Not zu spielen zu sollen. Juncker sprach bis spät in die Nacht mit den Fraktionsführern, um nach einer Kompromisslösung zu suchen. Aber es war zu spät. Der einzige Rat, den er noch geben konnte war, die Entscheidung zu vertagen und gemeinsam einen neuen Anfang zu suchen.
Nach dem Rückzieher Barrosos sprachen alle Fraktionsvorsitzenden ihre Bereitschaft aus, den künftigen Kommissionspräsidenten konstruktiv zu unterstützen, wenn er zu einem ernsthaften Dialog bereit sei. Das versprach Barroso und kündigte seinerseits erleichtert an, einen intensiven Dialog mit Ministerrat und Parlament führen zu wollen. Im Hintergrund saß der italienische Kandidat Buttiglione, der Auslöser dieser politischen Krise, völlig in seinem Sessel zusammengesunken, während er noch den ganzen Vormittag permanent lächelnd Siegesgewissheit auszustrahlen versucht hatte. Er fühlte sich, wie er wiederholt beklagt hatte, als Opfer einer modernen Christenverfolgung, passend zu der Aufführung im Straßburger Theater, in dem am Vorabend das Händel-Oratorium "Theodora" in einer modernen Inszenierung das christliche Märtyrium im antiken Rom Premiere zeigte.
Doch auf diese persönliche Betroffenheit ging der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion, Martin Schulz, nur in so weit ein, als er Barroso davor warnte, mit der gleichen Kommission wieder antreten zu wollen. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Hans-Gert Pöttering, räumte ein, dass seine Fraktion ein po-sitives Votum vorgezogen hätte, dennoch sei dies ein bedeutender Tag für den Prozess der Parlamentarisierung in Europa.
Der Promi der Grünen, Daniel Cohn-Bendit, wurde seinem Ruf erneut gerecht, empfahl Barroso Mao-Tsetung zu lesen, um von diesem Siegen zu lernen. Cohn-Bendit sprach mit der Gewissheit, live ins deutsche Fernsehen zu kommen, ausnahmsweise wieder einmal Deutsch. Der amtierende Ratspräsident, der niederländische Europaminister Atzo Nicolai bemerkte nur trocken, dies sei ein wichtiges demokratisches Ereignis und im Übrigen bleibe die Prodi-Kommission solange im Amt wie dies notwendig sei. Irgendwie schienen plötzlich alle froh und erleichtert.
Parlamentspräsident Josep Borrell erschien diese Stimmung wohl schon zu entspannt. Er beendete die denkwürdige Sitzung mit der Ermahnung an Barroso, er möge die Entschließung des Parlaments, die nun nicht mehr abgestimmt worden sei, dennoch aufmerksam lesen. Darin wurden die verschiedene Bedenken, wie sie sich aus den Anhörungen ergeben hatten, zusammengefasst. Es war die Rede von politischer Überzeugungen, die den Grundwerten der Union entgegenstehen, Mangel an politischen Fähigkeiten und Kenntnissen sowie Engagement in Bezug auf das vor-geschlagene Ressort, ungelöste Probleme oder nicht beantwortete Fragen im Zusammenhang mit Interessenskonflikten oder mögliche Verwicklung in Amtsmissbrauch und Rechtsbeugung. Zugleich wurde noch einmal auf die demokratische und rechtliche Bedeutung des Zustimmungsverfahrens durch das Parlament hingewiesen, von dem die Anhörungen ein entscheidender Teil seien.
Am Dienstag, einen Tag zuvor in der Aussprache über die neue Kommission, war Barroso im Ringen um das Vertrauen des Europäischen Parlaments den Abgeordneten in inhaltlichen Fragen deutlich ent-gegengekommen, ohne aber in der entscheidenden Frage der personellen Besetzung der Kommission nachzugeben. Statt dessen versprach er den Abgeordneten, dass sich die Kommissare im Rahmen eines Verhaltenskodex zum Rücktritt für den Fall verpflichten werden, wenn er sie dazu auffordern sollte. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei zu einem solchen Schritt kein Anlass. Der wegen seiner Äußerungen zur Rolle der Frau und zur Homosexualität heftig umstrittene Kommissionskandidat Buttiglione habe sich schriftlich verpflichtet, den Grundsatz der Nichtdiskriminierung stets einzuhalten.
Der Kommissionspräsident sagte, der unglückliche Vorfall habe auch sein Gutes, weil das Bewusstsein, entschieden gegen jede Form der Diskriminierung anzugehen, noch einmal geschärft worden sei. Er habe daher veranlasst, dass Buttiglione bei allen Grundrechtsfragen ein Team von Kommissaren unter dem Vorsitz von Barroso beratend zur Seite stehen werde. In diesem Zusammenhang habe er vor, die Gesetzgebung gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und sonstige Diskriminierungen zusammen mit dem Parlament zu verschärfen.
In der Aussprache forderte der Vorsitzende der christdemokratischen EVP-Fraktion, Hans-Gert Pöttering, dass auch Buttiglione nicht wegen seiner religiösen Überzeugungen diskriminiert werden dürfe. Schließlich liege die Stärke der europäischen kulturellen Identität in der Akzeptanz kultureller Unterschiede.
Martin Schulz bedauerte als Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion, das der Kommissionspräsident sich nach wie vor weigere, die notwendigen Konsequenzen aus dem Anhörungen zu ziehen. Wenn Buttiglione seinen vorgesehenen Arbeitsbereich behalte, bleibe das Haupthindernis für ein positives Votum bestehen. Im Übrigen bedeute eine Ablehnung keine institutionelle Krise, sondern sei ein normaler demokratischer Vorgang.
Der Brite Graham Watson warf als Fraktionschef der Liberalen den europäischen Regierungen vor, Barroso mit den von ihnen gemachten Personalvorschlägen nun im Regen stehen zu lassen. Viele im Rat empfänden es offenbar als nützlich, eine schwache Kommission zu bekommen.
Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Daniel Cohn-Bendit (Deutschland), bezeichnete jeden religiösen oder ideologischen Fundamentalismus als Gift für die Demokratie. Wenn jemand wie der Italiener gegen Scheidung oder Abtreibungen sei, werde er auch die Politik entsprechend zu beeinflussen versuchen.
Die frühere Umweltkommissarin und jetzt fraktionslose Abgeordnete Emma Bonino (Italien) sagte, wegen der Unbeweglichkeit des Präsidenten sei aus dem Fall Buttiglione längst ein Fall Barroso geworden.