Die Stasi schlich sich in der "Milchbar" in das Leben von Utz Rachowski. Das war 1971. Er war gerade 16 Jahre alt. Genauso alt wie der Junge, der so still neben ihm und fünf anderen Teenagern auf der Café-Bank im sächsischen Reichenbach gesessen und ihn verraten hatte: an die Lehrer der gemeinsam besuchten Schule und an die Staatssicherheit. Der junge Inoffizielle Mitarbeiter (IM) hatte seinen Lehrern von der tschechoslowakischen Flagge im Zimmer seines Altersgenossen erzählt - wenige Jahre nach dem Prager Frühling empfand die DDR-Führung so etwas als Bedrohung. Genauso wie das Zitat von Immanuel Kant, das auf einem Zettel an der Wand prangte: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit." Dies und das Engagement in einer lokalen Kirchengruppe reichten den Stasi-Leuten für ihr vernichtendes Urteil: "Staatsfeindliche Gruppenbildung" und "staatsfeindliche Hetze". Von nun an war für das halbe Kind Utz Rachowski, das von einem anderen halben Kind ausspioniert worden war, nichts mehr wie zuvor.
Ein Ministeriums-Mann holte Rachowski vom Schulhof weg zum Verhör ins Direktorzimmer. Der junge Mann, der Marx und Engels im Original las und seine Lehrer dadurch in Verlegenheit brachte, war dem Stasi-Offizier zu unangepasst. Die Folge: Ausschluss aus der Erweiterten Oberschule. Der Traum von Abitur und Studium war damit geplatzt. Stattdessen musste Utz Rachowski eine Elektrikerlehre absolvieren. Erst Jahre später, da war er schon Mitte 20, durfte er mit Glück das Abitur nachholen und studieren. Doch schon bald wurde er verhaftet und 1980 schließlich ausgebürgert. Keiner seiner fünf Freunde aus der Kirchengruppe, die mit ihm in der "Milchbar" gesessen hatten, durfte später auf eine Hoch- oder Fachschule.
Schicksale wie diese wurden mitgeformt von halbwüchsigen Schülern, die nur selten verstanden, was sie taten. Und von Lehrern, die ihr Wissen an die Stasi weiterleiteten. In Sachsen bietet sich nun die vermutlich letzte Chance, solche Ungerechtigkeiten ans Licht zu bringen. Das Kultusministerium des Freistaats hat Mitte Oktober beschlossen, alle Lehrer erneut auf eine mögliche Stasi-Mitarbeit zu durchleuchten. Ende 2006 läuft diese Überprüfungsmöglichkeit aus. Anlass für die Wiederholungsanträge ist die Freigabe der so genannten Rosenholz-Dateien, 381 CD-ROMs mit Informationen über das Agentennetz des Auslandsgeheimdienstes der DDR. Die Akten unterliegen seit Juli 2003 nicht mehr der Geheimhaltung. Mehrere Landtage haben sich daher entschlossen, die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes noch einmal zu untersuchen. Die Hoffnung: bislang unerkannte IMs in der alten Bundesrepublik, aber auch in der DDR zu enttarnen. Schließlich führte der Auslandsgeheimdienst der Stasi den "Kampf gegen den Feind" nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der streng bewachten Grenzen. Informanten der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der Staatssicherheit könnten bis heute im Staatsdienst arbeiten, vermutet daher das sächsische Kultusministerium. Fast alle Mitarbeiter werden überprüft. Nur, wer zu Beginn 1990 unter 18 Jahren war oder zum Jahresende aus dem Schuldienst ausscheidet, ist nicht betroffen. So kommen auch Westdeutsche, die heute in Sachsen arbeiten, unter die Lupe der Birthler-Behörde. "Damit wollen wir verhindern, dass eine Zweiklassengesellschaft in den Lehrerzimmern entsteht", begründet Ministeriumssprecher Dieter Herz die Entscheidung.
Doch eine Personengruppe wird von solchen Untersuchungen nicht erfasst: Wer als Minderjähriger seine Mitschüler, Freunde oder Vereinskollegen ausspionierte, bleibt unbehelligt. Die Birthler-Behörde darf Informationen über junge Menschen wie den, der mit 16 Jahren Utz Rachowski anschwärzte, nicht veröffentlichen. Der Bespitzelte kann heute nachvollziehen, was den stillen Jungen auf der Bank neben ihm antrieb: "Er kam aus einem bettelarmen Elternhaus und wollte endlich einmal irgendwo dazugehören. Außerdem war er kein guter Schüler. Durch die Bespitzelungen wollte er sich vermutlich für ein Hochschulstudium qualifizieren", sagt Rachowski.
Damit stand der minderjährige Spion nicht allein. Das Ministerium für Staatssicherheit durchkämmte bereits siebte Schulklassen nach zukünftigen Informanten. Wer Interesse zeigte und der Stasi tauglich schien, dem winkte nach der Schule eine Offizierslaufbahn in der Nationalen Volksarmee. Auch hauptamtliche Ministeriums-Mitarbeiter in spe wurden so geworben. Ihre möglichen Helfer sprach die Stasi direkt in der Schule an. Jedem jugendlichen IM stand ein Führungsoffizier zur Seite, der regelmäßig Berichte und Termine koordinierte. Ein eigenes Forschungsfeld der "Operativen Psychologie" befasste sich an der Hochschule des MfS in Potsdam mit der Rekrutierung von Jugendlichen. Oft ist heute nur noch schwer nachzuweisen, wer für die Stasi spionierte. Denn die Schüler verpflichteten sich nur mündlich zur Mitarbeit. Erst, wer volljährig war, unterschrieb einen IM-Verpflichtungsvertrag.
Die argwöhnische DDR-Führung missbrauchte diese jungen Menschen, um eine Generation unter Kontrolle zu halten, die sich ihr entfremdete. Zwar wuchs die Jugend im Sozialismus auf, doch die Entspannungspolitik mit der Bundesrepublik seit Anfang der 70er-Jahre barg aus SED-Sicht die Gefahr verstärkter "Infiltrierung" durch Westkontakte. Auch hatten Menschen wie Utz Rachowski gerade erst mit ansehen müssen, wie sowjetische Panzer die Hoffnungen auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" im Prager Frühling 1968 zerstörten. Der Staat misstraute seiner Jugend. Die Zahl der IMs nahm ständig zu. Ihr Auftrag: Überwachung, Beeinflussung und Zersetzung "feindlicher Subkulturen". 173.000 Inoffizielle Mitarbeiter registrierte die Stasi 1988 in ihren Karteien. Sechs Prozent von ihnen waren unter 18 Jahren. Zu diesen 10.000 Jugendlichen kamen noch einmal 7.000 Inoffizielle Mitarbeiter zwischen 18 und 24 Jahren.
Fast 15 Jahre nachdem mutige DDR-Bürger mit dem Ruf "Ich will meine Akte sehen!" in Berlin, Erfurt und anderen Städten Stasi-Gebäude erstürmten, sind noch immer erst 58 Prozent der erhaltenen MfS-Akten erschlossen. Auch die Geschichte von Utz Rachowskis Bespitzelung ist noch nicht vollständig rekonstruiert. Nach drei Anträgen auf Akteneinsicht glaubt der 50-Jährige, dass weitere Spitzel-Informationen auf ihre Entdeckung warten. Etwa in den 16.000 Papiersäcken mit rund 600 Millionen Papierschnipseln, die in der Berliner Zentrale der Birthler-Behörde lagern. Hektische Stasi-Mitarbeiter in allen Bezirksstellen hatten Tausende Akten im Wendewinter 1989/90 geschreddert und zerrissen, als sich das Ende des "Schilds und Schwerts der Partei" ankündigte. Die Geschichte der jugendlichen IMs ist daher noch lange nicht erschlossen.
Über den stillen Jungen, der am Anfang seiner zerstörten Jugend stand, weiß Utz Rachowski bis heute nur wenig. Keiner von beiden hat mit dem anderen Kontakt aufgenommen. Doch Groll hegt der heutige Schriftsteller nicht gegen den ersten der vielen Spitzel, die auf ihn angesetzt waren: "Er wusste doch kaum, was er anderen antat. Die wahren Schuldigen sind die Männer im Ministerium, die halbe Kinder zu ihren Instrumenten machten."