Eine solche Leidenschaft wünscht man sich für manch andere Debatten im Bundestag auch. Die Gretchenfrage hieß 1991 Bonn oder Berlin, und von einem Konsens im Parlament, aber auch außerhalb, war nichts zu spüren. Emotional und hartnäckig schoben sich die Bonn- und Berlin-Befürworter die Argumente zu. Natürlich ging es dabei auch ums Geld. Mehrere Milliarden Mark waren in den vergangenen Jahrzehnten in Bonn investiert worden, um die für einen Regierungssitz nötige Infrastruktur zu schaffen. Die letzten Projekte - ein neuer Plenarsaal, die Bundeskunsthalle oder das Haus der Geschichte - waren gerade bezugsfertig oder standen kurz vor der Einweihung, als der Bundestag in einer legendären Debatte am 20. Juni 1991 beschloss, Berlin solle Hauptstadt und damit Sitz von Parlament und Regierung werden. Es ging aber nicht nur um die Kosten. Sowohl die Berlin- als auch die Bonn-Fraktion führte den Symbolcharakter "ihrer" Städte für die deutsche Demokratie an.
Das war 1949 nicht anders. Auch damals bewegte eine genauso leidenschaftlich geführte Hauptstadtdebatte die junge Bundesrepublik. Die Gretchenfrage hieß jedoch: Bonn oder Frankfurt am Main? Man hätte meinen können, dass nach dem Beschluss des Parlamentarischen Rates vom 10. Mai 1949 die Sache eigentlich klar war. Eine äußerst knappe Mehrheit von 33 zu 29 Stimmen für Bonn als vorläufigen Regierungssitz ließ jedoch vermuten, dass die Diskussion nicht abebbt, solange der Bundestag die Hauptstadtfrage nicht endgültig klärt. Das sollte am 3. November geschehen. Von Mai bis November wurden also wieder Argumente hin- und hergeworfen, wobei der Bonus des Demokratie-Symbols eine untergeordnete Rolle spielte. Bonn, bisher als ruhige "Beamten- und Rentnerstadt" bekannt, hätte da zweifellos das Nachsehen gehabt. Frankfurt als Ort der Nationalversammlung von 1848 konnte diesen Pluspunkt in einer von finanziellen Erwägungen dominierten Debatte aber nicht ausspielen.
Im Unterschied zu 1991 ging der Riss in dieser Frage entlang von Parteigrenzen. Konrad Adenauer (CDU) machte aus seiner Sympathie für Bonn nie einen Hehl, bezeichnete es aber als "naiv", dafür allein seinen in der Nähe gelegenen Wohnort verantwortlich zu machen. Die SPD dagegen votierte schon im Parlamentarischen Rat für Frankfurt und brachte auch am 3. November einen entsprechenden Beschluss in den Bundestag ein.
Am Vormittag noch wurde den Abgeordneten eine Stellungnahme der Bundesregierung unterbreitet, in der sie ihre Argumente für Bonn bündelte. Abgesehen davon, dass man einen einmal demokratisch gefassten Beschluss nicht in Frage stellen wollte, spielten hier Zahlenspielereien die Hauptrolle.
Nach Ansicht der Regierung würde eine endgültige Etablierung des Bundessitzes in Bonn 100 Millionen Mark kosten, wovon das meiste Geld bereits ausgegeben sei. Bei einer Verlegung nach Frankfurt müssten demnach etwa 50 Millionen Mark als verloren angesehen werden. Hinzu kämen noch die Kosten des Umzugs der alliierten Hohen Kommission nach Frankfurt von etwa 60 Millionen Mark. Aus "schwerwiegenden finanziellen Gründen" sei deshalb ein solches Vorhaben nicht zu unterstützen.
Die Berechnungen des Hauptstadtausschusses des Bundestages enthielten noch detailliertere Angaben und schlüsselten die Kostenaufwendungen bis hin zur Wohnungsfrage auf: "Im Raum Bonn stehen 512 fertige Wohnungen zur Verfügung, im Ausbau befinden sich 614. Im Raum Frankfurt stehen insgesamt rund 4.000 Familienwohnungen zur Verfügung." So wechselten sich die Beispiele ab, in denen mal die eine und mal die andere Stadt besser dastand, insgesamt jedoch die Argumente für Bonn sprachen.
Dass es aber nicht nur eine Rechenfrage war oder eine "verwaltungstechnische Angelegenheit", wie Adenauer es formulierte, zeigte sich schon an den Menschenmassen, die vor Beginn der Sitzung das Parlamentsgebäude belagerten. Auch auf den Gängen und in den Büros der Abgeordneten wurde die Frage "Bonn oder Frankfurt" erregt diskutiert. Letztendlich war die Entscheidung für Bonn nicht so knapp wie befürchtet. Mit 200 gegen 176 Stimmen wurde sie endgültig besiegelt - auf Antrag der CDU in geheimer Abstimmung. Damit konnte Bonn sich auf den Weg machen, zu jenem Symbol stabiler Demokratie zu werden, als das es sich auch 1991 präsentierte. In diesem Fall jedoch hatte die Stadt das Nachsehen.