Die Macht in der EU, die haben nun wir: Pathos wabert durch den monströsen Glaspalast an der Ill, die über 700 Abgeordneten klatschen sich selbst begeistert Beifall, der "Sieg der Demokratie" wird ausgerufen, die "Parlamentarisierung" der EU gefeiert. Selbst Hans-Gert Pöttering, der Vorsitzende der EVP-Fraktion, reiht sich flugs in die Front der Gewinner ein - wiewohl doch seine Leute Barrosos Personaltableau brav durchwinken wollten. Und vor allem: Endlich richten sich einmal alle Fernsehkameras auf sie, auf die so oft verkannten Volksvertreter, die bei den EU-Wahlen immer nur wenige Stimmbürger an die Urnen zu locken vermögen. Dieses Mal aber beherrschen die EU-Deputierten und niemand sonst tagelang die TV-Nachrichten zwischen Madrid und Warschau, zwischen Athen und Oslo. Wie schön.
In der Tat ein historischer Moment, dieser 27. Ok- tober. Indes will es zu den Triumphgesten nicht so recht passen, dass das Fernsehpublikum schon wenige Stunden nach dem Straßburger Trubel Aufnahmen aus Brüssel und diversen Hauptstädten wie Berlin oder Rom über den Bildschirm flimmern sieht. Unverzüglich skizziert Bundeskanzler Gerhard Schröder die nach dem Eklat einzuschlagende Marschrichtung. In Rom wird gerätselt, ob Premier Silvio Berlusconi den besonders umstrittenen Signore Buttiglione zurückzieht oder ob er zum Trotz erst recht an dem katholisch-konservativen Politiker als italienischem Kommissionsmitglied festhält. Rasch wird gefragt, wie denn die Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Staaten diese Krise wohl lösen werden.
Tja, und die wackeren Volksvertreter aus Straßburg, was tun die jetzt? Nichts, sie sind erst einmal außen vor, sie sind aus dem Spiel. Die Abgeordneten dürfen erst wieder einer neuen Kommissionsmannschaft, bei deren Auswahl sie in keiner Weise mitzureden haben, ihr Plazet geben oder erneut die rote Karte zeigen. Selbst Barroso kann sich nicht einfach ein anderes Team nach eigenem Gusto zusammenbasteln, Portugals Ex-Premier ist letztlich in die Vorgaben der Staatenlenker eingebunden - und dies, obwohl der Präsident der Kommission in der Öffentlichkeit doch weithin als "Mister Europa", als "Chef" der EU gilt. Aber Image und reale Macht, das sind zweierlei Dinge.
Nun ist Barroso natürlich keine willenlose Marionette der Gipfelrunde, er wird am Telefon und in Kungelrunden schon mitmischen und sich besonders bei der konkreten Ressortaufteilung unter den Kommissaren auf die Hinterbeine stellen. Und Blair, Chirac, Schröder, Berlusconi, Zapatero, Juncker samt den restlichen Staatenlenkern werden selbstverständlich dem Aufstand der Parlamentarier in irgendeiner Weise Rechnung tragen. Etwas ratlos kommentierten Ex- und verhinderte Neu-Kommissare nach der Pleite Brüssels in Straßburg, niemand wisse, wie es jetzt weitergehe, alles sei unklar.
Diese Unbestimmtheit kommt nicht von ungefähr. Die Entscheidungsmechanismen der EU im viel zitierten "institutionalisierten Dreieck" aus Kommission, Parlament und dem unter dem Begriff "Rat" firmierenden Verbund der nationalen Regierungen sind zwar im Prinzip klar geregelt. In der politischen Praxis handelt es sich jedoch um eine recht undurchsichtige Gemengelage, die von verwinkelten Schachzügen zwischen den drei Machtzentren geprägt ist - die sich gegenseitig kontrollieren sollen und die sich überdies blockieren können. Eine solch festgefahrene Situation, die aber gewiss bald überwunden sein dürfte, hat sich bei der Bildung der neuen Kommission ergeben: Das Parlament kann dieses Gremium nicht wählen, kann keine Ressortabgrenzung vornehmen, kann die Fachgebiete auch nicht bestimmten Personen anvertrauen, all dies ist Sache der nationalen Regierungen und in gewissem Maße des Kommissionspräsidenten - ein Veto einlegen gegen die komplette Mannschaft, das ist der Hebel, mit dem die Straßburger Volksvertretung zu hantieren vermag.
Die Europäische Union: Was ist das eigentlich? Die EU ist kein Staat, kein Staatenbund, kein Bundesstaat, keine Föderation à la USA, auch keine internationale Organisation wie die UNO oder der Europarat. Es ist gar nicht so einfach, die EU zu definieren. "Gemeinschaft", "Union": So nennt sich dieses Konstrukt mit seinen neuerdings 25 Mitgliedern üblicherweise. Im Grunde könnte man die EU als eine Art Vereinbarung bezeichnen: Unabhängige, eigenständige, souveräne Nationen bündeln ihre Hoheitsrechte zum Nutzen aller - auch, um zusammen auf internationaler Ebene an Gewicht, Stärke, Einfluss zu gewinnen.
Im EU-Vertrag, Wesenselement der Gemeinschaft, sind die Modalitäten der Übertragung von nationalen Entscheidungsbefugnissen an die Organe der Union geregelt. Die Einrichtungen der EU sind sozusagen die Plattform, das Forum, wo permanent um die Transformation der Hoheitsrechte und deren konkrete Ausgestaltung gerungen wird. Sieht man von speziellen Instanzen wie etwa der Zentralbank, dem Regionalausschuss, der Investitionsbank oder den vielen Berufsbildungs-, Umwelt-, Lebensmittel- und sonstigen Agenturen ab, so verteilt sich diese Plattform auf 27 Standorte: auf die 25 Regierungssitze, auf das Kommissionsgebäude in Brüssel und auf den Parlaments-Palast in Straßburg. In wachsendem Maße profiliert sich als 28. Platz Luxemburg, wo sich der EU-Gerichtshof mit seinen Auslegungen des EU-Rechts zusehends auch zu einem Faktor von politischem Gewicht mausert - so wie in Deutschland das Karlsruher Verfassungsgericht.
Das klingt natürlich alles reichlich abstrakt, und es ist auch nicht verwunderlich, dass vielen Bürgern zwischen Lappland und Sizilien die EU wie eine rätselhafte Sphinx aus einer ganz anderen Welt erscheint - ein Universum, in dessen politischem und wirtschaftlichem Interessendschungel auf undurchsichtige Weise kräftig gemauschelt, geboxt und gefoult wird. Der Blick auf die Strukturen und die Entscheidungsmechanismen innerhalb des "institutionellen Dreiecks" lichtet zumindest ein wenig den Nebel über dem Machtgerangel. Konfliktlinien sind bereits in der EU-Konstruktion angelegt.
Die Kommission gilt als "Initiativorgan" unter den drei zentralen EU-Instanzen: Das klingt gut, nach Dynamik, nach Gestaltungsmacht, weshalb die Brüsseler Equipe dieses Prädikat gern hervorkehrt. In der Tat hat nur die Kommission die Befugnis, neue EU-Rechtsvorschriften auszuarbeiten. Die 24 Kommissare und ihr Präsident nehmen in diesem Sinne eine Schlüsselstellung im Geflecht der Gemeinschaft ein. Allerdings, und das relativiert den Einfluss dieses Gremiums beträchtlich: Verabschiedet werden diese "Gesetze" vom Rat, in dem die fachlich jeweils zuständigen Minister der nationalen Regierungen sitzen, und vom Straßburger Parlament. Die Kommission ist also nicht der Gesetzgeber, ist aber wiederum zuständig für die Umsetzung der Brüsseler Richtlinien, also der EU-Politik, in den Mitgliedsstaaten. Auch die Verwaltung des Haushalts obliegt der Kommission (der Etat wird aber ebenfalls von Rat und Abgeordnetenhaus beschlossen).
Vor diesem Hintergrund wirkt es einigermaßen kurios, wenn nationale Politiker in ihren Heimatländern gegen die Regelungswut der abgehobenen Brüsseler Technokraten wettern, die Zuckerdosen in Cafés reglementieren, die ungerechte Kriterien bei der Subventionsvergabe für Bauern und Stadtquartiere vorschreiben oder die bei den Finanzministern nervend auf die Einhaltung des Stabilitätspakts pochen: All das haben die Regierungen nämlich zuvor auf EU-Ebene selbst beschlossen.
Zu den Aufgaben der Kommission, die sich auf einen Apparat mit 24.000 Bediensteten stützt, gehört auch das Aushandeln von Übereinkommen mit anderen Ländern - etwa zum Verkehr und zur Zinsbesteuerung mit der Schweiz oder mit den USA zur umfassenden Übermittlung der Daten von Flugpassagieren, was bei Bürgerrechtlern auf heftige Kritik stößt. Nicht zuletzt kann die Kommission Mitgliedsstaaten vor dem Luxemburger Gerichtshof wegen der Verletzung von EU-Recht verklagen. Ein solches Damoklesschwert schwebt publicityträchtig wegen des Verstoßes gegen die Defizit-Kriterien in nationalen Etats über dieser und jener Regierung. Neuerdings zerrt Brüssel die Bundesrepublik mit dem Vorwurf, das VW-Privatisierungsgesetz widerspreche EU-Bestimmungen über den freien Kapitalverkehr, vor den Kadi in Luxemburg.
Zusammen, das klingt vordergründig nach harmonischer Eintracht, werden das Parlament und der Rat als Gesetzgebungsorgane tätig. Häufig aber sind diese beiden Gremien Gegenspieler - so wie es sich zwischen Regierung und Parlament ziemt. Aber eigentlich ist es doch nicht so, weil es in der EU eben keine richtige "Regierung" und kein echtes "Parlament" gibt. Da soll noch einer durchblicken.
Die Straßburger Volksvertretung ist zwar als einzige EU-Institution demokratisch gewählt, es formieren sich Fraktionen, Ausschüsse, informelle Zirkel, so wie man es von einem Parlament her kennt. Eine Regierungsmehrheit und eine Opposition sucht man jedoch vergeblich: wie auch, wo ein zu wählendes Kabinett in der EU als einer vertraglich verknüpften Union eigenständiger Staaten nun mal nicht existiert.
Ob der EU-Haushalt oder der Beitritt neuer Staaten, ob Umwelt, Landwirtschaft, Verkehr, Binnenmarkt, Wettbewerb, Strukturfonds oder unzählige andere Fachbereiche: In einem im Detail komplizierten Prozess mit abgestuften Anhörungs-, Zustimmungs- und Mitentscheidungsrechten je nach Themengebiet kann das Abgeordnetenhaus bei den zwischen Kommission, Rat und Parlament oft lange Zeit hin- und her wandernden Dossiers Änderungen in Vorlagen beschließen und manche Entwürfe als Ausdruck äußerster Machtdemonstration durch Verweigerung der Zustimmung ganz scheitern lassen - von sich aus durchzusetzen aber vermögen die Volksvertreter nichts. Das gilt für die Gesetze oder jetzt beim Showdown um die Besetzung der Kommission. Während der Amtszeit dieses Gremiums kann die Straßburger Kammer auch einen Misstrauensantrag gegen die Kommission beschließen. Nicht übersehen sollte man eines: In der Praxis hat das Parlament zusehends an Einfluss gewonnen, auch wenn sich das selten öffentlichkeitswirksam niederschlägt. Ohne das Plazet der Volksvertreter läuft politisch immer weniger in der EU: Deren Mitbestimmungsrechte, faktisch eine Vetomacht, wurden spürbar ausgeweitet.
Das allerletzte Wort bei den Gesetzen der EU hat indes der Rat, also die Repräsentanz der nationalen Regierungen, und diese Instanz mischt natürlich auch von vornherein bei politischen Initiativen mit: Dort wird die Musik gespielt, auch wenn das die Brüsseler Kommission und das Straßburger Parlament nicht so gern hören. Hinter dem Rat verbergen sich zwei Räte - die EU müht sich wirklich redlich, gegenüber den Bürgern undurchschaubar und unverständlich daher-zukommen.
Da ist zum einen der Europäische Rat, in dem die Staats- und Regierungschefs sowie der Kommissionspräsident versammelt sind. In diesem Kreis residiert die wahre Macht, was bei den Gipfeltreffen stets mit einem eindrucksvollen Gruppenfoto und mit viel Medienrummel inszeniert wird. Aber nicht nur bei diesen Treffen wird die Politik der EU ausbaldowert: Zwischen den Hauptstädten wird eifrig gereist, um bilateral zu verhandeln, um auf diesem Weg jüngst etwa Probleme bei der EU-Verfassung oder beim Beitritt von Polen aus dem Weg zu räumen.
Zum andern ist der Rat der EU aktiv, oft als Ministerrat bezeichnet. Mit diesem Kollegium, in dem je nach Themengebiet die verschiedenen nationalen Ressortminister für Wirtschaft und Finanzen, Umwelt, Landwirtschaft und andere Bereiche tagen, hat es das Parlament bei der Verabschiedung der EU-Rechtsvorschriften zu tun. Bei einem solchen Treffen haben beispielsweise die Verkehrsminister jüngst verfügt, dass in der EU neu ausgestellte Führerscheine künftig alle zehn Jahre erneuert werden müssen - sogar gewisse Tests bei einer solchen Auswechslung lagen in der Luft, wovon die Autofahrer dann doch verschont wurden. Unter dem Dach des Rats arbeiten auch die Außen- und Innenminister der 25 Mitgliedsnationen zusammen, formell unabhängig vom EU-Vertrag: Sie beschließen, wen wundert es, zwecks intensiverer Überwachung der Bürger einträchtig Fingerabdrücke in Reisepässen oder streiten sich über die Errichtung von Flüchtlingslagern in Nordafrika. In der Außen- und Innenpolitik geben die Staaten keine Hoheitsrechte an die EU ab.
Auf der Basis der alles andere als belanglosen formalen Entscheidungsstrukturen im "magischen Dreieck" wird handfeste Politik gemacht, und da geht es selbstverständlich nicht einfach nach Schema F aus dem Handbuch für Institutionenkunde zu. Der Kampf um die Gesetze der EU beginnt nicht erst, wenn sich die Straßburger Parlamentarier und die Minister im Rat über die Vorlagen der Kommission beugen. Vorentscheidungen fallen schon während der Ausarbeitung dieser Richtlinien beim Clinch im Dschungel des Kommissionsgeflechts, da wird vieles auf den Weg gebracht und manches frühzeitig ausgebremst. Unzählige Lobbyisten stehen in Brüssel auf der Matte, zu denen auch die Gesandtschaften hiesiger Bundesländer zählen - die begehrliche Blicke besonders auf die Subventionstöpfe der EU werfen.
Regierungen, Unternehmen, Interessenverbände, die bestimmte Dinge durchdrücken oder verhindern wollen, versuchen, in Brüssel einen Fuß in die Tür zu bekommen und Kommissare für ihre Anliegen in Stellung zu bringen. Oder Minister hoffen, die EU für Maßnahmen instrumentalisieren zu können, die sie zu Hause nicht durchsetzen können. Im Gegenzug pflegen manche Kommissare eine intensive Reisediplomatie in die Hauptstädte, um für ihre Initiativen schon im Vorfeld Mehrheiten zusammenzuzimmern. Wer im Straßburger Parlament seine Zeit nicht bloß als Hinterbänkler verbummelt, hört ebenfalls rechtzeitig das Gras wachsen und schaltet sich in den Gang des Geschehens ein.
Ziemlich ausgereizt hat seine formale und faktische Macht in Brüssel der bisherige Kommissar David Byrnes, was dem freiheitlichen Klima in der Gesellschaft wenig zuträglich ist. Was hat der irische Politiker, der mit Inbrunst die Bürger mit Tugend- und Gesundheitszwängen zu traktieren pflegt, im Verein mit EU-Parlamentariern und nationalen Ministern nicht alles dekretieren können: drohende Zeigefinger auf Zigarettenschachteln, ein Werbeverbot für Tabak, also Zensur, und manches mehr. Aufgelaufen ist dagegen jene Kommissarin, die Nacktphotos in Medien untersagen wollte: Kaum wurde ihre Absicht bekannt, brach ein Sturm der Entrüstung los, die Pläne wurden, zumindest vorerst, wieder eingemottet und reiften erst gar nicht zu einer Vorlage zu Händen des Rats und des Parlaments.
Der Streit um die neue EU-Kommission und die Konflikte um den Türkei-Beitritt illustrieren augenfällig die Entscheidungsmechanismen der EU und die damit verquickten Interessen. Es sind die Regierungschefs, die den Kommissionspräsidenten bestimmen, auch wenn er dann vom Parlament bestätigt werden muss. José Manuel Barroso war für Schröder, Chirac, Blair und die anderen nicht die erste Wahl. Es kann Wochen, zuweilen Monate dauern, bis weißer Rauch nach einem Gerangel aufsteigt, bei dem meist mehrere prominente Namen vor und hinter den Kulissen verheizt werden. Die 25 Regierungen sind es auch, die nach eigenem Gusto einen Kommissar nach Brüssel schicken, auf diese Personalauswahl hat Barroso keinen Einfluss.
Häufig wird diese Regelung als Konstruktionsfehler des EU-Vertrags kritisiert. Das ist jedoch eine Sache des Blickwinkels: Aus Sicht der Mitgliedsstaaten ist dieses Prozedere recht vorteilhaft, bietet sich den Regierungen auf diese Weise doch die Möglichkeit, bestimmte Interessen zu verfolgen. So kann es innenpolitisch von Vorteil sein, ein Personalproblem durch die ehrenvolle Abschiebung auf einen lukrativ besoldeten Posten in Brüssel zu entsorgen. Und wenn Silvio Berlusconi Signor Buttiglione benennt, dann platziert der römische Premier eine rechtskonservative Stimme in Brüssel - auch wenn die Kommissare im Prinzip auf die Wahrung von EU-Interessen verpflichtet sind und nicht als Beauftragte ihrer Regierungen agieren sollen.
Bei der Verteilung der Ressortzuständigkeiten ist Barroso ebenfalls nicht völlig frei, auch da mischen die Regierungschefs mit. So schwebte Kanzler Schröder vor, Günter Verheugen als eine Art Superkommissar für Wirtschaft, Industrie und Technologie zu installieren. Aus dem Superkommissar wurde zwar unter Barroso nichts, aber Verheugen wurde mit dem Industrieressort betraut. Dass Buttiglione ausgerechnet zum Innen- und Justizkommissar avancierte, dürfte Gesinnungsfreund Berlusconi erfreut haben: Zufall? Nicht abwegig ist die Vermutung, dass ein Kommissionspräsident jene nicht unbedingt verärgern will, die ihn für dieses Amt auserkoren haben.
Mit der Drohung, die gesamte Kommission durchfallen zu lassen, hat das Parlament zwar Barroso zum Rückzug gezwungen, im Kern aber den Regierungschefs eine Watschen verpasst. Jedoch liegt es vor allem in deren Händen und weniger in der Macht Barrosos, wie nun das neue Gremium aussehen wird. Und wenn die Staatsspitzen auf die Idee verfallen sollten, einen neuen Präsidenten zu suchen: Niemand kann ihnen dreinreden. Es spricht nicht viel dafür, dass wenigstens auf mittlere Sicht die EU-Parlamentarier selbst die Kommission wählen oder zumindest über die Bestätigung einzelner Kommissare befinden können.
Nach den Statuten hat das letzte Wort beim Beitritt der Türkei das Straßburger Abgeordnetenhaus: Die EU-Parlamentarier müssen der Aufnahme zustimmen, sonst wird da nichts draus. Bis der Beitrittsbeschluss in den Ausschüssen diskutiert und dann zur Abstimmung gestellt wird, wird freilich noch sehr viel Wasser die Ill hinabfließen. Und bis dahin sitzen die EU-Volksvertreter lediglich auf der Zuschauerbank.
Die Aufnahmegespräche mit Ankara führt die Kommission, bisher war dafür Erweiterungsfachmann Verheugen zuständig. Politisch ausgefochten wird dieser Kampf, der Europa schon jetzt aufwühlt und noch weiter zerreißen dürfte, freilich in und zwischen den Mitgliedsstaaten. Wer immer Verheugen ablösen wird: Weitaus stärker noch als bei den Komplikationen im Vorfeld des Beitritts Polens und der anderen neun "Jungmitglieder" werden sich die Regierungschefs in die Verhandlungen einklinken - steht wegen dieses heiklen Problems doch auch innenpolitisch viel auf dem Spiel. In Frankreich ist eine große Mehrheit der Bevölkerung gegen die Aufnahme Ankaras, Chirac hingegen will das, und deshalb wird in Paris tüchtig finassiert. Hierzulande wäre es ein Wunder, wenn die Türkei-Frage nicht auch den Bundestagswahlkampf 2006 mit aufmischen würde. Nichts könnte besser als dieser Streit aufzeigen, wie eng verwoben mittlerweile die EU- und die nationale Politik sind, und dass sich die Konflikte ihre eigenen Lösungs- und Entscheidungswege auch jenseits formeller Strukturen suchen.
Im Übrigen offenbart der Zoff um Barrosos Mannschaft auch noch auf fast originelle Weise, dass die EU bis in die letzte Faser eine Veranstaltung souveräner Mitgliedsnationen ist. Im EU-Vertrag regelt kein Paragraph die Verlängerung der Amtszeit einer amtierenden Kommission: Die aktuelle Situation ist schlicht nicht vorgesehen. Romano Prodis Team soll aber, da das Nachfolgegremium wegen des Straßburger Aufruhrs noch auf sich warten lässt, fürs erste "kommissarisch" weiter tätig sein. Das darf aber nicht einfach so geschehen. So forderten denn die Brüsseler Botschafter der 25 Staaten Prodi formell auf, bis zur Installierung einer neuen Kommission die Geschäfte fortzuführen. Es sind die nationalen Regierungen, die alles, wirklich alles in den Griff nehmen.