Selten gelingt es, eine Epoche anhand eines Einzelschicksals darzustellen. Denn in vielen Romanen drängt das Erleben und Erleiden des Protagonisten alles andere an den Rand, werden zeitgeschichtliche Zusammenhänge gestreift, aber nicht ausgeleuchtet. Die wechselvolle Zeitspanne zwischen Juni 1942 und Oktober 1943, in der Cioma Schön-haus, Sohn russischer Emigranten, als Jude in Berlin überlebt, ist der Höhepunkt der Judenverfolgung, die mit dem Holocaust endet. In jeder Passage seines Buches schildert Schönhaus einen an Spannung kaum zu überbietenden Überlebenskampf und damit zugleich die sadistischen Mechanismen eines auf totale Vernichtung ausgerichteten Regimes.
Als Hitler schon an der Macht war, kamen immer noch Juden nach Berlin, um sich hier, in der ver-meintlichen Anonymität der Großstadt, besser vor antisemitischen Diskrimierungen schützen zu können. Sie gaben sich der Illusion hin, jüdische Organisationen in Berlin böten ihnen Schutz vor Verfolgung und Entrechtung. Als sie den brutalen Druck der Nazis nicht mehr aushielten, hetzten sie von einem Unterschlupf zum nächsten. Viele Versteckte liefen tagsüber ziellos durch die Straßen der Großstadt, hielten sich in Parks und auf Friedhöfen auf oder mischten sich mit der Angst als ständigem Begleiter unter die Passanten.
Zu ihnen gehörte Cioma Schönhaus, dessen Eltern im Juni 1942 nach Majdanek transportiert und kurz darauf ermordet wurden. Dass der 20-jährige Jude am Leben blieb, hat er seiner Ausbildung als Grafiker zu verdanken und dem Glück, sehr früh von Helfern aufgenommen zu werden, die Juden unter Einsatz ihres Lebens retteten. Oft handelte es sich um Mitglieder oder Sympathisanten der Bekennenden Kirche, die den politischen Widerstand unterstützten.
Als Schönhaus einen Entlassungsschein der Wehrmacht fälscht, beginnt seine unglaubliche "Karriere" als Passfälscher im Untergrund, die ihm und Hunderten von Verfolgten das Leben rettet. Er macht sich eine nicht nur deutsche Eigenschaft zunutze: Nur wer einen Ausweis besitzt, gilt letztlich als vollwertig. Das galt unter dem NS-Regime noch mehr als in normalen Zeiten. Schönhaus fälscht, was immer ihm unter die Hände kommt, und verdient damit seinen Lebensunterhalt: Post- und Werksausweise, Lebensmittelkarten, arische Kennkarten, Haushalts- und Bezugsaussweise, Führerscheine.
Schönhaus tanzt auf einem Vulkan. Er besitzt die Chuzpe, sich eine Segeljacht auf dem Wannsee zu kaufen, während täglich mehr Juden in Vernichtungslager gebracht werden. Mehrmals entgeht er den Häschern nur um Haaresbreite. Er wechselt seine Identitäten, immer am Rande der Deportation, und verfeinert zugleich seine lebensrettende Technik. Das Leben zwischen Hochstapelei und Fälschung endet jäh, als er seine Brieftasche mit seinen und anderen gefälschten Papieren verliert. Da ihm der Verlust zum Verhängnis zu werden droht - die Gestapo sucht ihn steckbrieflich -, flieht er mit selbst gefälschten Reisedokumenten per Fahrrad in die Schweiz.
Auch heikelste Situationen beschreibt er selbstironisch, distanziert und aus der Sicht eines lebenslustigen 20-Jährigen, wobei die Leidensgeschichte seines Volkes zu keiner Zeit vergessen wird. Die meisten seiner Helfer überlebten die dramatischen Jahre nicht; das Nazi-Regime rächte sich auch dann noch, als sein Zusammenbruch bevorstand.
Cioma Schönhaus
Der Passfälscher.
Scherz-Verlag, Frankfurt/M. 2004;
235 S., 17,90 Euro