Er ist ein Kind und wird es immer bleiben. Aber ein Kind mit einer Machtfülle, die alles erschwert. Wenn nicht unmöglich macht." Dieses vernichtende Charakterbild Wilhelms II. entstammt der Feder eines Mannes, der als Hofmarschall sieben Jahre, von 1903 bis 1910, nicht nur den Kaiser und seine Hofgesellschaft aus nächster Nähe kennen lernen konnte.
Zedlitz-Trützschler pflegte auch mit führenden Militärs und Politikern Kontakt und erlebte wichtige innen- und außenpolitische Ereignisse dieser Jahre wie die erste Marokkokrise 1905/1906, die zunehmende Selbstisolierung Deutschlands, das Flottenwettrüsten mit England und die "Daily Telegraph"-Affäre 1908 aus dem Zentrum der Macht in Berlin mit.
Er verstand seine zuerst im Jahre 1923 erschienenen, unbestechlichen und oft selbstquälerischen Aufzeichnungen als "Selbstgespräche, in denen ich mich bemühte, vor mir selbst in vollster Aufrichtigkeit Rechenschaft abzulegen über das, was ich dachte, da ich es nicht aussprechen durfte". Sein Anliegen, mit dieser früher als ursprünglich geplant vorgenommenen Veröffentlichung den damals einsetzenden Bemühungen des exilierten Kaisers, sich literarisch in der Öffentlichkeit wieder eitel in Szene zu setzen, entgegenzuwirken, führte zum gesellschaftlichen Boykott seiner unbelehrbaren Standesgenossen.
Der scharfe und kritische Blick hinter die Kulissen des kaiserlichen Hofes ist deprimierend. Zwar kann sich auch Zedlitz-Trützschler bisweilen wie viele seiner Zeitgenossen nicht dem Charme des Kaisers, seiner raschen Auffassungsgabe und seiner Aufgeschlossenheit für die wissenschaftlich-technische Moderne entziehen.
Des Kaisers Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit, seine Oberflächlichkeit und Scheu vor gründlicher Arbeit, sein oft an Lächerlichkeit grenzender autokratische Cäsarenwahn, seine hektischen Reiseaktivitäten, seine krankhafte Eitelkeit, sein brüsker und oft tief verletzender Umgangston auch mit hochgestellten Persönlichkeiten, seine Beratungsresistenz, vor allem aber das undurchdringliche Gespinst von Byzantinismus, Speichelleckerei, geistiger Servilität und Liebedienerei, das den Kaiser wie ein Kokon umgab und gegen die Realität abschirmte, ließen den Hofmarschall immer mehr an der Lebens-, Funktions- und Reformfähigkeit des deutschen Regierungssystems verzweifeln und erfüllte ihn - wie viele andere Beobachter - mit bangen Ahnungen für die Zukunft Deutschlands.
Dies geschah nicht ohne selbstkritische Reflexionen darüber, hier mehrere Jahre, wenn auch aus der Sicht des stets misstrauischen Kaisers als "unheimlicher Mensch", "mitgespielt" zu haben. Zedlitz-Trützschler war schon 1904 überzeugt, "dass auf die Dauer dieses absolutistische System, diese Polizeiherrschaft, und Bevormundung, dieser Bureaukratismus und dieser ausgesprochene Militarismus nicht regierungsfähig sind".
Dem bekannten britischen Kaiserbiographen John Röhl ist voll zuzustimmen: Diese Aufzeichnungen "gehören zu den besten Quellen über die höfische Gesellschaft in der Wilhelminischen Epoche." Dem Jenaer Historiker Fesser sei Dank dafür, sie nach Jahrzehnten wieder sorgfältig eingeleitet und kommentiert einer am Wilhelminismus interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben.
Robert Graf von Zedlitz-Trützschler
Zwölf Jahre am deutschen Kaiserhof.
Aufzeichnungen des ehemaligen Hofmarschalls Wilhelms II.
Herausgegeben und eingeleitet von Gerd Fesser.
Donat Verlag, Bremen 2004;
311 S., 16,80 Euro