Eigentlich könnte man annehmen, dass sich die islamische und die westliche Welt durch die Migration einer großen Anzahl von Muslimen, durch die mediale Vernetzung sowie durch die voranschreitende Globalisierung heute viel näher gekommen sind als je zuvor in der Geschichte und daher auch viel Wissen über "den anderen" besitzen. Bei Themen allerdings wie der Menschenrechts- oder Frauenfrage wird immer deutlicher, wieviel Verständnislosigkeit und Nichtwissen den Diskurs immer noch prägen. Konkret bedeutet das im Westen weithin fehlendes Wissen über den Islam, z.B. über das islamische Strafrecht oder Menschenrechtsverständnis mit seiner Überordnung der Scharia über alle von Menschen geforderten Rechte.
Das Ehe- und Familienrecht gilt als Kern der Scharia. Mit wenigen Ausnahmen ist die Scharia heute in allen islamischen Ländern, aber auch in Teilen von Afrika und Südostasien eine wesentliche oder sogar die einzige Grundlage des Personenstandsrechts und damit der Rechtsprechung in Zivilprozessen. Eine säkulare, von religiösen Normen abgekoppelte Rechtsprechung in Ehe- und Familienangelegenheiten existiert also weithin nicht. Einzig die Türkei schaffte die Scharia im Zuge der Gründung der Türkischen Republik als Gesetzesgrundlage ab und richtete die Ehe- und Familiengesetzgebung 1926 am Schweizerischen Zivilgesetzbuch aus.
In den übrigen Teilen der islamischen Welt wird die ungebrochene Gültigkeit der Schariagebote insbesondere in der Ehe- und Familiengesetzgebung weder von maßgeblichen theologischen Autoritäten noch von der Bevölkerung grundsätzlich in Frage gestellt. Aufgrund der Tatsache, dass in den islamischen Kernländern keine Aufklärung im europäischen Sinn stattgefunden hat und keine von religiösen oder staatlichen Lehrinstitutionen formulierte Religionskritik existiert, werden im Hinblick auf die Scharia im Wesentlichen Auslegungsfragen diskutiert. In der Gegenwart, in der invielen Ländern eine voranschreitende Islamisierung zu beobachten ist, werden bestehende Gesetze sogar wieder vermehrt an der Scharia ausgerichtet.
Bei der Begründung für die Beschränkung der Frauenrechte in islamischen Ländern geht es jedoch nicht nur um das Thema Religion. Auch tief verwurzelte kulturelle Traditionen, eng verflochten mit religiösen Werten, machen es Frauen schwer, unter verschiedenen Lebensperspektiven für ihren beruflichen wie privaten Alltag frei zu wählen. So macht nicht selten dort, wo der Islam theoretisch Freiräume gewährt, die gesellschaftliche Realität deren Einforderung unmöglich.
Während nach westlicher Auffassung die Unterdrückung der Frau im Islam vor allen Dingen an Äußerlichkeiten wie der Kleidungsfrage zum Ausdruck kommt, zeigen sich die wirklichen Benachteiligungen an ganz anderer Stelle und zwar im rechtlichen Bereich.
Zwar haben in den letzten Jahrzehnten etliche islamische Länder gesetzliche Veränderungen im Familienrecht vorgenommen, die eine Besserstellung der Frau bewirken. So geht die Tendenz oft zu einer Heraufsetzung des Mindestheiratsalters (anstelle der früher weit verbreiteten Verheiratung der Tochter mit Eintritt der Pubertät) sowie zu dervermehrten staatlichen Registrierung der Eheschließung (anstelle des herkömmlichen, nichtöffentlichen Vertragsschlusses zwischen zweiFamilien). Die Tendenz geht auch zu einer Beschränkung der Polygamie durch die Erfordernis einer richterlichen Genehmigung einer Zweitehe (anstelle der zuvor dem Einzelnen überlassenen zweiten oder dritten Eheschließung) und zur Auflage eines Versöhnungsversuches vor der Gewährung der gerichtlichen Scheidung (anstelle des formlosen dreimaligen Aussprechens der Scheidungsformel "Ich verstoße dich" durch den Ehemann).
Auch die Erweiterung der gerichtlich anerkannten Scheidungsgründe bei Klageerhebung durch die Frau (anstelle der nach traditioneller Auffassung für die Frau kaum möglichen Scheidung) ist in vielen Ländern auszumachen sowie eine prinzipielle Verbesserung der Kindschaftssorgeregelung, welche die Mutter nach einer Scheidung nicht mehr grundsätzlich von der Erziehung und dem Kontakt zu ihren Kindern ausschließt (anstelle der alleinigen Wahrnehmung der Erziehung durch den Vater ab dem Alter von sieben Jahren für Jungen bzw. neun Jahren für Mädchen).
In anderen islamischen Staaten ist aber auch eine umgekehrte Entwicklung zu beobachten: In der Rückbesinnung auf den Islam und seine Rechtsprinzipien wird eine "Reinigung" der Gesetzgebung von europäischen Rechtselementen aus der Kolonialvergangenheit sowie die vermeintlich "vollständige Einführung der Scharia" proklamiert. In den letzten Jahren sind in Ländern wie Nigeria, dem Iran oder dem Sudan Schauprozesse - insbesondere wegen Ehebruch - als öffentliche Demonstration der Wiedereinführung der Scharia geführt worden.
Die islamische Theologie betrachtet die Scharia als vollkommene Ordnung göttlicher Autorität, die jeder Gesellschaft Frieden bringt, von Gott selbst geschaffen und deshalb nicht veränderbar ist. Die Scharia regelt gleichermaßen die "vertikalen" wie "horizontalen" Beziehungen jedes Menschen: Sie gibt Anweisungen für das Verhalten in Familie und Gesellschaft (dazu gehört das Ehe- wie das Strafrecht), aber sie reglementiert auch die Gottesverehrung (vor allem die Praktizierung der "Fünf Säulen" Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen und Wallfahrt). Der Ablauf des täglichen rituellen Gebets ist also ebenso wenig in das Belieben des Einzelnen gestellt wie die Klauseln eines Ehevertrags. Aufgrund der Durchdringung aller Lebensbereiche mit den Geboten der Scharia gibt es aus dieser Sicht keinen "säkularen", von der Religion abgetrennten Bereich. Trotz dieses Generalanspruchs der Scharia, alle Lebensbereiche eines Menschen regeln zu wollen, handelt es sich dabei nicht um ein kodifiziertes Gesetzbuch. Die Scharia ist gleichermaßen konkret wie interpretierbar, ebenso erstarrt wie flexibel. Sie ist zu keiner Zeit und an keinem Ort je vollständig zur Anwendung gekommen. Sie ist also immer ein idealtypisches Gesetz geblieben.
Die Bestimmungen der Scharia basieren auf drei Quellen: dem Koran, der Überlieferung sowie deren normativer Auslegung durch frühislamische Juristen und Theologen, die in Einzelfragen differieren und in die Bildung von vier sunnitischen und einer schiitischen "Rechtsschule" mündeten.
Außer dem Koran, der ersten Rechtsquelle, behandelt die Überlieferung, "hadith" (arab. Überlieferung, Tradition, Bericht), in den Berichten über Muhammad und seinen Prophetengefährten eine Reihe von Rechtsfragen. Während muslimische Gläubige im nichtrechtlichen Bereich der Überlieferung lediglich aufgefordert sind, Muhammads "Gewohnheit" (arab. "sunna") nachzuahmen, ist die Befolgung der rechtlichen Bestimmungen der Überlieferung unbedingte Pflicht. Wenn also die Überlieferung berichtet, Muhammad habe einen Bart getragen, dann gilt es als "sunna" (nachzuahmende Gewohnheit) für männliche Muslime, ebenfalls einen Bart zu tragen. Wer es aber nicht tut, macht sich keiner Straftat und keiner Sünde schuldig.
Anders jedoch bei Rechtsfragen: Wo die Überlieferung Detailanweisungen zum Ehe- und Familiengesetz gibt (z.B. dass der Rechtsvertreter gemeinsamer Kinder immer der Vater sein muss oder Ehebrecher gesteinigt werden sollen), sind diese verbindlicher Natur. Wer den gesetzlichen Regelungen der Überlieferung nicht Folge leistet, begeht sowohl eine Sünde als auch eine Straftat (z.B. indem er zwei Schwestern heiratet und damit eine nach der Scharia verbotene Eheschließung vollzieht). Wenn also der Koran nach überwiegender Auffassung die Polygamie ebenso gestattet (Sure 4,3) wie die Züchtigung der Ehefrau (4,34), dann gelten diese Aussagen der konservativen Theologie als göttliche Anweisungen von ewiger Gültigkeit, die nach deren Auffassung ihren Niederschlag in der heutigen Gesetzgebung muslimischer Länder finden sollten.
Koran und Überlieferung werden in ihren knappen Anweisungen jedoch erst durch die Auslegungen muslimischer Theologen anwendbar. Dieser Auslegung sind nicht Tür und Tor geöffnet. In erster Linie gelten hier die Abhandlungen maßgeblicher Theologen und Juristen aus frühislamischer Zeit als wegweisend bis in die Moderne. Durch die rasch voranschreitenden Eroberungen der ersten Jahrzehnte nach Muhammads Tod entstand schon sehr bald die Notwendigkeit, in den neu eroberten islamischen Gebieten ein Rechtssystem zu etablieren. Aus Gelehrtenzirkeln der ersten Jahrzehnte entstanden "Rechtsschulen" 1 (Auslegungstraditionen), von denen sich im sunnitischen Islam bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. vier Schulen (Hanafiten, Hanbaliten, Schafiiten, Malikiten) dauerhaft durchsetzen konnten. Die Auffassungen dieser vier Rechtsschulen unterscheiden sich in manchen Rechtsfragen, ganz abgesehen von den Unterschieden, die sich in der Beurteilung rechtlicher Fragen zwischen sunnitischen und schiitischen Gelehrten 2 ergeben.
Da die Interpretation der rechtlichen Anweisungen aus Koran und Scharia und ihre Umsetzung in gesetzliche Bestimmungen zum Teil erheblich differieren, existiert keine einheitliche, in Rechtstexte gegossene "Scharia". Es ist ein gewisser Grundkorpus an Gesetzen vorhanden, die aus den Texten des Korans und der Überlieferung abgeleitet werden, sowie eine Reihe unterschiedlicher Auslegungen mehrerer Rechtsschulen und die daraus in den einzelnen Ländern gezogenen, sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die Gesetzgebung vor Ort. Trotz der fehlenden Kodifikation und einer gewissen Bandbreite an Auslegungen ist die Scharia jedoch auf der anderen Seite kein verschwommener Korpus unklarer Vorschriften, in den man alles hineininterpretieren könnte. Gerade im Ehe-, Familien- und auch im Strafrecht enthalten Koran und Überlieferung vergleichsweise eindeutig formulierte Anweisungen, welche die Auslegungsmöglichkeiten stark eingrenzen.
Im Mittelpunkt der Scharia steht das Ehe- und Familienrecht. Zu diesem Bereich finden sich im Koran und in der Überlieferung die meisten und detailliertesten Aussagen - diese stellen einen Spiegel konkreter Rechtsfälle dar, die an Muhammad und nach seinem Tod an seine Nachfolger herangetragen worden sind. Die Scharia, so wie sie heute aufgefasst wird, wurzelt also in der Regelung einiger Rechtsfragen einer arabischen Stammesgesellschaft des 7. und 8. Jahrhunderts, die durch Theologen und Juristen bis zum 10. Jahrhundert normativ ausgelegt wurden und in der Etablierung von Rechtsschulen mündeten. Das osmanische Familiengesetzbuch vom 25. Oktober 1917 war das erste auf der Scharia gründende Gesetzbuch zum Familienrecht der islamischen Welt, 3 die übrigen islamischen Länder schufen erst im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts Gesetzeskodifikationen. 4
Wo heute einzelne Staaten - wie der Sudan (1983), der Iran (1979 und 1982/83), Pakistan (1979) oder Teile Nigerias (ab 2000), Jemen und Libyen (jeweils 1994) - eine "Rückkehr zur Scharia" verkündeten, ist damit vor allem eine verschärfte Ausrichtung am koranischen Ehe- und Familienrecht gemeint. In den meisten islamischen Ländern kommt heute de facto ein Konglomerat zur Anwendung aus koranischen Geboten, Elementen der islamischen Überlieferung, dem arabischen Gewohnheitsrecht (das zu Teilen im Koran aufgegriffen wird) und vorislamischen sowie dem europäischen Recht entlehnten Elementen, die insbesondere während der Kolonialzeit in die islamische Welt Eingang fanden.
Zwar ist in der Theorie der Korpus an Schariabestimmungen zum Thema Ehe und Familie für alle islamischen Länder relativ einheitlich - abzüglich differerierender Auffassungen der einzelnen Rechtsschulen -, in der Praxis werden diese Schariabestimmungen jedoch von Land zu Land sehr unterschiedlich gehandhabt. Dazu kommen die vor Ort gelebten kulturellen Normen, die teilweise im Islam wurzeln, teilweise auch im nichtislamischen Bereich vorhanden sind. Auch der Grad der Frömmigkeit einzelner Familien ist von großer Bedeutung sowie die Frage, ob eine Frau und ihre Angehörigen im ländlichen oder städtischen Bereich leben, denn ein städtisches, günstigstenfalls wohlhabendes, Bildung und Fortschritt gegenüber aufgeschlossenes Familienumfeld bietet einer Frau bessere Entfaltungsmöglichkeiten.
Über der muslimischen Apologetik zum Rollenverständnis von Mann und Frau steht die Prämisse, dass nur die Scharia Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und der Frau wahre sowie Würde und Ehre verleihen kann. Die Gleichberechtigung der Frau gehe - so die muslimische Apologetik - aus dem koranischen Schöpfungsbericht ebenso hervor (Sure 39,6; 49,13) wie aus der Verpflichtung von Mann und Frau zur Erfüllung der Gebote des Islam (vor allem der "Fünf Säulen"), in der die Frau dem Mann in nichts nachstehe. Beide, Männer und Frauen, seien "aus einem einzigen Wesen" erschaffen worden (4,1), einander zu "Beschützern" oder "Freunden" (9,72) bestimmt, und beiden werde gleichermaßen das Paradies verheißen, wenn sie "Gott demütig ergeben" seien (33,35) und "glauben und das Rechte tun" (16,97).
Ungeachtet des Schöpfungsberichtes begründet der Koran jedoch an anderer Stelle ebenso wie die Überlieferung eine deutliche Überordnung des Mannes über die Frau. Als Koranvers von großer rechtlicher wie gesellschaftlicher Tragweite ist Sure 4,34: "Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie vor diesen ausgezeichnet hat und wegen der Ausgaben, die sie von ihrem Vermögen gemacht haben. Und die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben (oder: gehorsam)...". Und ähnlich Sure 2,228: "Die Männer stehen eine Stufe über ihnen." Muslimische Theologen kommentieren diese Verse nicht selten so: "Männer und Frauen haben als Menschen nicht denselben Wert" 5 oder: "Männer sind Frauen überlegen, und ein Mann ist besser als eine Frau." 6
Insbesondere aus Sure 4,34 werden zwei Grundkomponenten des islamischen Eherechts abgeleitet: Die Überordnung des Mannes über die Frau wird dadurch begründet, dass Gott den Mann über die Frau gestellt habe (Sure 2,228) und dass der Mann "Ausgaben" für die Frau tätige (4,34). Damit ist nach weitgehend übereinstimmender Auffassung die Pflicht des Mannes zum Unterhalt seiner Frau gemeint, während sie ihm "demütig ergeben" oder "gehorsam" zu sein hat (4,34). Dieser Gehorsam wird in erster Linie auf den Bereich der Sexualität bezogen, denn der Mann erwirbt mit Abschluss des Ehevertrages und der Aufnahme der Unterhaltszahlungen das Recht auf den Körper seiner Frau (vgl. Sure 2,223; 2,187). T. Akinola Aguda formuliert: "Nach diesem Vers soll eine Ehefrau ihrem Mann immer zur Verfügung stehen, wenn er es wünscht." 7
Die beiden Säulen des islamischen Eherechts lauten also "Unterhalt" und "(sexueller) Gehorsam". Das Unterhaltsrecht der Frau bezieht sich auf den täglichen Lebensunterhalt (Nahrung, Kleidung, Wohnung), nach Meinung der malikitischen Rechtsschule auch auf die medizinische Versorgung der Ehefrau im Krankheitsfall. Versäumt der Ehemann seine Unterhaltspflicht, erhält seine Frau als Folge das Recht zum Ungehorsam: Ist sie ungehorsam (indem sie z.B. gegen seinen Willen das Haus verlässt), kann der Ehemann seine Unterhaltszahlungen einstellen. Diese Grundlage des islamischen Eherechts von Überordnung und Unterordnung zieht eine Reihe von Folgerungen nach sich. Dies soll an folgenden Beispielen gezeigt werden:
Neben dem Ehe- und Familienrecht ist das islamische Strafrecht eines der Themen, bei dem sich im Vergleich zu westlichen Menschenrechtsvorstellungen und westlicher Gesetzgebung die größten Differenzen ergeben. Das islamische Strafrecht basiert nach überwiegender Meinung auf einer Dreiteilung in Grenz-, Ermessens- und Wiedervergeltungsvergehen.
Mit "Grenzvergehen" werden diejenigen wenigen Verbrechen bezeichnet, die der Koran oder die Überlieferung als Kapitalverbrechen benennen und mit einem bestimmten Strafmaß belegen. "Grenz"vergehen werden sie genannt, weil sie nicht menschliches Recht, sondern das Recht Gottes verletzen, 11 indem eine Grenze überschritten wird. Ein Gerichtsverfahren darf daher weder durch eine außergerichtliche Einigung abgewendet, noch darf die Strafe verschärft oder vermindert werden, sondern es muss genau die im Koran bzw. der Überlieferung vorgesehene Strafe vollstreckt werden. Zu den Grenz- bzw. Kapitalverbrechen gehören:
Die Überlieferung benennt unter den Kapitalverbrechen zudem Homosexualität und Vergewaltigung, allerdings wird das Strafmaß dafür unter muslimischen Theologen kontrovers diskutiert. Einige Juristen fordern in diesen Fällen die Todesstrafe, andere reihen die Homosexualität unter "Ermessensvergehen" ein. Auch der Abfall vom Islam verlangt nach Auffassung aller vier Rechtsschulen die Todesstrafe, obwohl der Koran demjenigen, der dem Islam den Rücken kehrt, nur eine Strafe im Jenseits androht.
Die Voraussetzung für eine Verurteilung wegen eines Kapitalverbrechens ist entweder ein Geständnis bzw. die Aussage zweier männlicher Augenzeugen, bei Ehebruch und Unzucht sind sogar vier männliche Augenzeugen erforderlich. Ein Geständnis muss freiwillig erfolgen und der Geständige mündig und geistig gesund sein und vorsätzlich gehandelt haben. 12 Wenn allerdings kein Beweisverfahren für ein Kapitalverbrechen geführt werden kann, kann ein Verdächtiger dennoch bestraft werden, z.B. mit einer Strafe, die im Ermessen des Richters liegt.
Geständnisse können bis zur Vollstreckung der Strafe zurückgezogen oder auch bei Unglaubwürdigkeit vom Richter zurückgewiesen werden, und Kapitalverbrechen verjähren überaus rasch. Indizienprozesse (etwa anlässlich einer Schwangerschaft einer unverheirateten Frau) sind unüblich, aber in Einzelfällen möglich. Die meisten Kapitalvergehen - insbesondere Ehebruch und Unzucht - kommen kaum vor Gericht, sondern vor allem Frauen werden innerhalb der eigenen Familie mit Schlägen, Einsperren oder Tod bestraft.
Verbrechen mit Wiedervergeltung (arab. qisas) richten sich gegen Leib und Leben. Mord oder Totschlag verletzen nach Auffassung der Scharia nicht göttliches, sondern nur menschliches Recht, während z. B. Ehebruch und Alkoholgenuss Gottes Recht verletzen. 13 Die Verbrechen mit Wiedervergeltung erfordern die Zufügung derselben Verletzung bzw. die Tötung des Schuldigen, die - falls der Berechtigte darauf verzichtet - in Zahlung von Blutgeld umgewandelt werden kann, sowie eine religiöse Bußleistung wie z.B. zusätzliches Fasten (2,178 - 179). Schuldfähig ist nur der Volljährige, der im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist.
Wiedervergeltung bedeutet die Zufügung derselben Verletzung bzw. die Tötung desjenigen, der vorsätzlich getötet hat - des Mörders - unter Aufsicht des Richters. Allerdings kann nur der nächste männliche Verwandte des Opfers die Tötung fordern. Dabei gilt streng das Prinzip der Gleichheit: eine Frau für eine Frau, ein Sklave für einen Sklaven. "O ihr Gläubigen! Euch ist Wiedervergeltung für die Getöteten vorgeschrieben: Der Freie für den Freien, der Sklave für den Sklaven, und die Frau für die Frau!" (Sure 2,178). Kann diese Gleichheit nicht hergestellt werden, darf keine Wiedervergeltung geübt werden.
Die Familie des Opfers kann auf die Tötung des Schuldigen verzichten und stattdessen die Zahlung eines Blutpreises (arab. diya) fordern. Im Iran beträgt der Blutpreis für einen muslimischen Mann derzeit 100 fehlerlose Kamele, 200 Kühe oder 1 000 Hammel, 200 jemenitische Gewänder und 1 000 Dinar oder 10 000 Silberdirham 14 . Für eine Frau beträgt er in der Regel die Hälfte, ebenso ist er für einen Nichtmuslim meist geringer.
Wurde einem Opfer nur eine Verletzung zugefügt, kann dem Täter dieselbe beigebracht werden, aber nur vom Opfer selbst. Auch hier kann stattdessen eine Entschädigung bezahlt werden.
Alle anderen Fälle, die nicht zu den Kapitalverbrechen und Verbrechen mit Wiedervergeltung gehören, sind bei der Bestrafung in das Ermessen des Richters gestellt. Aufruhr, falsches Zeugnis, Beleidigung, Bestechung, Urkundenfälschung, Unterschlagung, Verkehrsverstöße, Betrug, Erpressung, Kidnapping u.a., sowie Kapitalvergehen, die zum Beispiel durch einen Mangel an Beweisen nicht als Kapitalverbrechen bestraft werden können, gehören zu den Ermessensvergehen.
Der Richter kann harte Strafen verhängen wie lange Gefängnisstrafen (begrenzte und unbegrenzte Haft), Verbannung, Auspeitschung (die Ansichten variieren von 20 bis 99 Peitschenhieben) 15 oder Geldstrafen. Der Richter kann den Täter seines Amtes entheben oder seinen Besitz beschlagnahmen, ihn ermahnen oder tadeln. Der Richter kann den Schuldigen öffentlich bloßstellen und vor ihm als einer nicht vertrauenswürdigen Person warnen. 16 In schweren Fällen kann der Richter nach Meinung einiger Gelehrter für Ermessensvergehen sogar die Todesstrafe verhängen, und zwar nach verbreiteter Auffassung vor allem bei Gewohnheitstätern ohne Aussicht auf Besserung: Homosexuelle, Verkünder von Häresien, welche die islamische Gemeinschaft spalten, Mörder, sofern ihre Tat nicht durch Vergeltung gerächt wird, Rauschgifthändler oder Spione.
Die Bandbreite an Straftatbeständen, die in den Ermessensbereich des Richters fallen, ist groß. Vor allem dort, wo kein kodifiziertes Strafgesetzbuch vorliegt (wie wohl derzeit noch in Bahrain, Qatar, Oman und den Vereinigten Arabischem Emiraten), ist die Bestrafung für ein Vergehen, das weder unter die Grenz-, noch unter die Wiedervergeltungsverbrechen fällt, weitgehend offen.
Das islamische Strafrecht wird also durch mehrere Besonderheiten gekennzeichnet: Zum einen durch seine immens harten Strafen wie Auspeitschung, Amputation, Steinigung und Kreuzigung für Kapitalverbrechen. Gleichzeitig ist ein Prozess nur sehr schwer zu erreichen bzw. im Fall des Ehebruchs und der Unzucht, der vier männliche Augenzeugen erfordert, so gut wie unmöglich. Dieser Umstand und die nahöstlich-muslimische Auffassung von Ehre und Schande, welche die Frau als Trägerin der Ehre harten Sanktionen aussetzen kann, macht die private Ahndung eines auch nur vermuteten Verbrechens wahrscheinlicher, da nach überwiegender Auffassung durch eine familiäre Bestrafung kein wirkliches Unrecht begangen, sondern der richterlichen Gerechtigkeit nur vorgegriffen wurde.
Nach Auffassung der muslimischen Apologetik ist das islamische Strafrecht letztlich der Menschheit weitaus dienlicher als das Strafrecht westlicher Länder, da es viel mehr der Abschreckung diene. Zudem falle ein Straftäter der Gesellschaft nicht durch lange Gefängnisstrafen zur Last. 17 Unberücksichtigt bleibt dabei, dass Gefängnisstrafen in islamischen Ländern oft sehr hoch sind bzw. aufgrund des Fehlens rechtstaatlicher Strukturen sogar unbestimmt verlängert werden können, sowie die Tatsache, dass ein Amputierter ebenfalls der Gesellschaft zur Last fallen wird.
Hat man vor 40 Jahren noch angenommen, dass die Autorität der Scharia an Bedeutung verlieren und auch die islamische Welt von der im Westen weit vorangeschrittenen Säkularisierung ergriffen werden würde, wurde spätestens in den siebziger Jahren deutlich, dass vielfach eine umgekehrte Entwicklung, eine Rückbesinnung und Neuorientierung auf das islamische Recht einsetzte. Dort, wo die Scharia - zumindest teilweise - in die Praxis umgesetzt wurde, muss sie ihr Versprechen, den Menschen Würde, Freiheit und Gerechtigkeit zu bringen, erst noch einlösen. Minderheiten und Frauen sind die ersten Leidtragenden auf dem Weg zu einer vollständigen Islamisierung der Gesellschaft. Auch in Deutschland ist eine vertiefte Beschäftigung mit dem islamischen Recht und dessen inhaltlicher Definition von Menschen- und Frauenrechten dringend geboten.
1 'W. Montgomery
Watt/Alford T. Welch, Der Islam I. Mohammed und die Frühzeit,
Islamisches Recht, Religiöses Leben. Die Religionen der
Menschheit, Bd. 25,1, Stuttgart 1980, S. 240.'
2 'Zur Entwicklung des
zwölferschiitischen Rechts vgl. Harald Löschner, Die
Dogmatischen Grundlagen des Shiitischen Rechts. Erlanger
Juristische Abhandlungen, Bd. 9, Köln 1971.'
3 'Vgl. Hans-Georg Ebert, Wider die
Schließung des `Tores des igtihad`: Zur Reform der sari`a am
Beispiel des Familien- und Erbrechts, in: Orient, 43 (2002), S.
368.'
4 'Einen Überblick über die
Ehe- und Familiengesetzgebung einiger arabischer Länder
Nordafrikas und des Mittleren Ostens vermittelt Dawoud Sudqi El
Alami, The Marriage Contract in Islamic Law in the Shari`ah and
Personal Status Laws of Egypt and Morocco, Arab and Islamic Laws
Series, London 1992.'
5 'P. Newton/M. Rafiqul Haqq, The Place
of Women in Pure Islam, Caney 19943, S. 2.'
6 'Ibn Kathir, zit. in: ebd.'
7 'Akinola T. Aguda (Hrsg.), The
Marriage Laws of Nigeria. National workshop. Papers presented, held
at the Nigerian Insitute of Advanced Legal Studies, Lagos 1981, S.
40.'
8 'Murtada Mutahhari, The Rights of
Women in Islam, Tehran 1981, S. 182, mit Bezug auf eine
nichtmuslimische Psychologin.'
9 'Ebd.'
10 'Zit. in: Adel-Theodor Khoury
(Übers.), So sprach der Prophet. Worte aus der islamischen
Überlieferung, Gütersloh 1988, S. 268.'
11 'Vgl. B. Carra de Vaux/J. Schacht,
hadd, in: Encyclopaedia of Islam, Vol. 3, Leiden 1986, S.
20.'
12 'Vgl. Silvia Tellenbach,
Strafgesetze der Islamischen Republik Iran, Berlin 1996, S.
47.'
13 'Vgl. Konrad Dilger, Tendenzen der
Rechtsentwicklung. in: Werner Ende/Udo Steinbach (Hrsg.), Der Islam
in der Gegenwart, München 19964, S. 206.'
14 'Vgl. S. Tellenbach (Anm. 12), S.
96f.'
15 'Vgl. Mohammed S. El-Awa, Punishment
in Islamic Law: A Comparative Study, Indiana 1993, S. 107.'
16 'Vgl. ebd., S. 102f.'
17 'Vgl. Nagaty Sanad, The Theory of
Crime and Criminal Responsibility in Islamic Law: Shari`a, Chicago
1991, S. 56f.'