Zwar ist in dieser Frage die Haltung des Parlaments für den EU-Gipfel nicht bindend, doch über eine Ablehnung durch das Straßburger Parlament hätten sich die Mitgliedstaaten der EU wohl nur schwer hinwegsetzen können. Die Abgeordneten waren der Meinung, dass der Beginn der Verhandlungen die Einleitung eines längeren Prozesses bedeute, dessen Ende offen sei und der nicht automatisch in eine Aufnahme der Türkei münde. Anträge der Christdemokraten, Rat und Kommission der EU sollten aufgefordert werden, das alternative Ziel einer privilegierten Partnerschaft anzustreben, wurden mit ähnlich breiter Mehrheit abgelehnt. Jetzt, so Beobachter in Straßburg, liege es an der Türkei selbst, ob sie in der Lage sei, ein integrierter Bestandteil Europas zu werden. Ziel sei eine Vollmitgliedschaft des Landes.
Ausschlaggebend für die breite Zustimmung waren offenbar die beeindruckenden Anstrengungen der türkischen Behörden, das Land durch gesetzgeberische Reformen schnell an europäische Normen anzunähern. Dabei wurden die Abschaffung der Todesstrafe, die veränderte Rolle des Nationalen Sicherheitsrates und die Aufhebung des Notstandes im Südosten der Türkei hervorgehoben. Die Abgeordneten begrüßten in der Entschließung insbesondere auch die Reform der Strafprozessordnung. Doch unumgänglich sei noch die bisher ausgebliebene Streichung des berüchtigten Paragraphen 305 des türkischen Strafgesetzbuches, wonach die "Bedrohung grundlegender nationaler Interessen" bestraft wird. Danach kann nach wie vor jeder bestraft werden, der sich kritisch im Zusammenhang mit der Zypern- und Armenienfrage äußert. Dies ist unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates und dem EU-Grundrechtekatalog.
In seiner Entschließung verweist das Europaparlament darauf, dass in der ersten Verhandlungsphase die umfassende Durchführung der politischen Kriterien wie die Menschenrechte und Grundrechte Vorrang hat. Diese müssten auch in der Praxis erfüllt sein. Die Verhandlungen sollen gemäß dem Kommissionsvor-schlag ausgesetzt werden, wenn dies der Rat (die Vertretung der Einzelstaaten) mit qualifizierter Mehrheit beschließt.
Vor dem Votum hatten 147 Abgeordnete aus der EVP-Fraktion und von der extremen Rechten den Antrag auf geheime Abstimmung durchgesetzt. Entweder wollten sie nicht, dass sie in der Öffentlichkeit als Türkeigegner dastehen, oder aber sie hofften, Unterstützung von Vertretern anderer Fraktionen zu erhalten, die sich sonst nicht trauten, gegen die Verhandlungen zu sein.
In der Debatte am 1. Dezember hatte die Mehrheit der Sprecher der sieben Fraktionen den Bericht des niederländischen Christdemokraten Camiel Eurlings unterstützt, in dem die Auffassung vertreten wird, dass die Gespräche mit der Türkei ohne weitere Verzögerung beginnen sollten. Obwohl es auch in der Fraktion der Christdemokraten völlig unterschiedliche Positionen gab, lehnte der Fraktionsvorsitzende der EVP, Hans-Gert Pöttering, eine Aufnahme der Türkei grundsätzlich ab. Er warb erneut dafür, den Türken eine privilegierte Partnerschaft anzubieten, ein Alternativmodell, das in einer internen Abstimmung aber nur von 92 Abgeordneten unterstützt wurde, während 79 dagegen stimmten. Vor allem italienische und britische Parlamentarier plädierten für die Vollmitgliedschaft der Türkei, während andere zumindest für die Auf-nahme von Verhandlungen waren. Die 49 deutschen CDU/CSU-Parlamentarier lehnten wie auch französische Abgeordnete der Regierungspartei UMP Verhandlungen grundsätzlich ab. Eine Aufnahme dieses Landes, sagte Pöttering, würde eine grundsätzlich andere Union schaffen, weil sich die EU zu Tode erweitere. Niemals in der Geschichte der europäischen Integration habe eine so schwerwiegende Gewissensentscheidung getroffen werden müssen.
Dieser Auffassung widersprachen Sozialdemokraten, Liberale und Grüne vehement. SPE-Fraktionschef Martin Schulz verwies darauf, dass die Türkei ohnehin nur aufgenommen werden könne, wenn sie das gesamte Gesetzgebungswerk der EU einschließlich des einklagbaren Grundrechtskatalogs in der Europäischen Ver-fassung übernehme. Wenn sie die schaffe, werde zugleich der Beweis erbracht, dass der Islam und die europäische Werteordnung mit den Grundsätzen der Parlamentarischen Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte keine Gegensätze seien. Wenn dies gelinge, werde die EU ihre Werte der Demokratie und des Friedens in eine Region exportieren, die diese mehr denn je brauche. Diesen Versuch nicht zu wagen, wäre grob fahrlässig.
Die frühere Kommissarin Emma Bonino erklärte für die Liberalen, ihre Fraktion hätte sich einen wesentlich klareren Bericht ohne Vorbehalte und Sonderbedingungen gewünscht. Es wäre es sinnvoller gewesen, stärker auf die Menschenrechtssituation in der Türkei einzugehen und auf die europäischen Grundwerte hinzuweisen. Doch es gehe nicht nur um die Türkei, sondern auch um Europa. Um die Frage nämlich, ob die EU auch wirklich ein verlässlicher Partner sei, der früher gegebene Versprechungen auch einhalte. Die Union sei ein politisches und kein geographisches oder religiöses Projekt, und ihre Identität liege weniger in den Wurzeln als in der Gegenwart.
Für die Grünen forderte Joost Lagendijk (NL) die unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen ohne Zusatzauflagen mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft. Gerade weil es in der Türkei noch viele Probleme gebe, seien die Beitrittsverhandlungen die beste Garantie für weitere Reformen. Sollte es weiterhin ernsthafte Menschenrechtsverletzungen geben, könnten die Verhandlungen unterbrochen werden. Andre Brie (D) bemängelte im Namen der Vereinigten Linken die Verschleierung der wirklichen Situation in der Türkei, insbesondere in der Minderheitenpolitik. Deshalb hätte sich seine Fraktion besondere Kontrollinstrumente gewünscht. Dennoch unterstütze sie die Verhandlungen mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft.
Für die EU-Kommission sagte der neue Erweiterungskommissar Olli Rehm aus Finnland, dass die Türkei seit dem Kommissionsbericht vom 6. Oktober mit der verabschiedeten Strafrechtsreform und dem neuen Versammlungsrecht weitere positive Schritte in Richtung EU getan habe. Wichtige Forderungen wären aber noch die Änderung der Minderheitenpolitik sowie die Schaffung einer wirksamen zivilen Kontrolle über das Militär.
Für den EU-Ministerrat wies der niederländische Europaminister Atzo Nicolai darauf hin, dass die Türkei in der jüngsten Zeit geradezu revolutionäre Fortschritte gemacht habe. Deshalb müsse die Union auch die Befürchtungen Ankaras ernst nehmen, dass für die Türkei Sonderbedingungen und unzumutbare Ausnahmeregelungen beschlossen werden könnten.