Nichts Genaues weiß man nicht. Genugtuung klingt in der Erklärung an, die der Europarat nach dem Besuch von Generalsekretär Terry Davis in Berlin veröffentlichte: Justizministerin Brigitte Zypries habe bei diesen Gesprächen "den bindenden Charakter der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt" - eine in der Öffentlichkeit anders verstandene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Verhältnis zwischen der Menschenrechtscharta des Europarats und dem Grundgesetz sei "in den Medien falsch interpretiert worden".
Aber jetzt ist ja alles wieder in Butter, die Straßburger Rechtsprechung hat also doch Vorrang gegenüber der deutschen Gerichtsbarkeit, ist verpflichtend für Justiz und Politik in der Bundesrepublik: Diesen Eindruck wollte der Staatenbund vermitteln.
Gleichwohl: Nichts Genaues weiß man nicht. Nicht überzeugt zu sein von dieser Klarheit scheint ausgerechnet Luzius Wildhaber, Präsident des 45köpfigen Richterkollegiums des Europarats: Diplomatisch höflich, aber unmissverständlich äußert er im Blick auf die neuerdings umstrittene Beachtung der Urteile des Straßburger Gerichtshofs in Deutschland "große Sorge, was für ein Eindruck da entsteht". Bisher habe die Bundesrepublik die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Menschenrechtscharta des Europarats "immer höher gehalten als die nationalen Interessen". Mahnend fügt der Schweizer an: "Ich würde es sehr bedauern, wenn sich das ändern sollte." Die Konvention, auf der die Rechtsprechung des Gerichtshofs fußt, müsse jedenfalls "von allen Vertragsstaaten gleichermaßen beachtet werden". Wildhaber: "Wir dürfen hier nicht mit zweierlei Maß vorgehen."
Was zählt in der Bundesrepublik mehr: Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts oder die Beschlüsse des Menschenrechtsgerichtshofs? Unversehens hat sich diese Frage als heißes Eisen entpuppt, das allseits mit spitzen Fingern angefasst wird. In Straßburg jedenfalls möchte man das heikle Problem nicht mehr kommentieren, mit der Stellungnahme Wildhabers in einem "Spiegel"-Interview will man es vorerst bewenden lassen. Eine Entscheidung des hiesigen Verfassungsgerichts hat erheblich Staub aufgewirbelt und erstmals die bislang scheinbar klar justierten Beziehungen zwischen Berlin und dem Europarat, zwischen der deutschen und der Straßburger Justiz zur Debatte gestellt.
Zum Anlass genommen für ihren überraschenden Vorstoß hat Karlsruhe einen Streit um das Besuchsrecht eines Vaters gegenüber seinem unehelichen Kind. Dieser Spruch bietet Stoff für allerlei Interpretationen, verkündet aber eine unzweideutige Botschaft: dass nämlich das Grundgesetz im Zweifelsfall über den Straßburger Urteilen steht, dass die Beschlüsse der Europarats-Kollegen jedenfalls nicht "schematisch vollstreckt" werden dürfen. Seither herrscht dicke Luft zwischen Berlin, Karlsruhe und Straßburg, auch wenn das offiziell so niemand sagen mag. Wer hat das letzte Wort? Was vordergründig als prestigeträchtiger Showdown zwischen den blauschwarzen Roben am Sitz des Europarats und den roten Roben in der deutschen Residenz des Rechts anmutet, ist von großer gesellschaftlicher Tragweite.
Über Jahrzehnte hatte sich in Politik und Öffentlichkeit die Überzeugung festgesetzt, dass die Menschenrechtskonvention des Europarats und damit die Urteile des Straßburger Gerichts über den nationalen Verfassungen und damit auch über der nationalen Rechtsprechung stehen. Alle Mitgliedsländer des Staatenbunds verpflichten sich ja mit der Aufnahme ins Palais d'Europe zur Respektierung der Charta. Der Gerichtshof gilt als höchste juristische Instanz auf dem Kontinent, an die sich sämtliche 800 Millionen Bürger zwischen Atlantik und Kaukasus nach Durchlaufen des heimischen Rechtswegs wenden können - um ein "endgültiges" Urteil zu erreichen.
Bislang hatte das Kollegium des Europarats in der Bundesrepublik einen ausgesprochen guten Ruf: Wenn Straßburg Folter in der Türkei, inhumane Haftbedingungen in Russland oder chronisch überlange Prozesse in Italien als Verstöße gegen die Menschenrechtskonvention geißelt und die verantwortlichen Regierungen zu teils saftigen Strafzahlungen verdonnert, so stößt dies hierzulande in allen politischen Lagern meist auf Beifall. Die Autorität des Gerichtshofs wurde auch deshalb nie angezweifelt, weil Wildhabers Runde Deutschland nur selten und dann in nicht eben brisanten Fällen zu rüffeln pflegte: die in Baden-Württemberg von Männern zu zahlende Feuerwehrabgabe zu kippen, nun ja, das hebt die Welt nicht unbedingt aus den Angeln. Bislang, so der Schweizer Jurist, seien die Straßburger Urteile in der Bundesrepublik "mit einer wunderbaren Regelmäßigkeit vollzogen worden".
In jüngerer Zeit aber geht es ans Eingemachte. So hoben die Blauschwarzen gleich zwei politisch bedeutsame Beschlüsse der Roten auf. Oder sollte man neuerdings vorsichtshalber sagen, dass sich Straßburg in Widerspruch zu Karlsruhe setzte?
Einmal beschied Wildhabers Gremium, dass die vom Bundesverfassungsgericht gebilligte entschädigungslose Enteignung der Erben sogenannter Neubauern, denen nach dem Krieg in der DDR enteignetes Land zugesprochen worden war, gegen die in der Menschenrechtscharta verankerte Eigentumsgarantie verstoße. Und dann erst das "Caroline-Urteil" Straßburgs, das die Karlsruher Kollegen besonders gefuchst haben dürfte: Am Beispiel der monegassischen Prinzessin Caroline dekretierten die Europarats-Richter, dass Fotos Prominenter bei privaten Aktivitäten in der Öffentlichkeit wie etwa beim Reiten am Strand oder beim Shopping nicht mehr ohne deren Zustimmung veröffentlicht werden dürfen. Das hiesige Verfassungsgericht hatte hingegen geurteilt, "absolute Personen der Zeitgeschichte" müssten diese Publizität hinnehmen. Journalisten und Verleger kritisierten den Straßburger Spruch empört als massiven Verstoß gegen die Pressefreiheit. Gerade das "Caroline-Urteil" zeigt, dass es sich beim Konflikt zwischen Blauschwarz und Rot nicht bloß um Paragraphenklaubereien dreht.
Die Karlsruher Retourkutsche ist nicht frei von einer gewissen Raffinesse. Beim Streit um das Besuchsrecht eines Vaters gegenüber seinem Sohn sprang das Verfassungsgericht den Straßburger Kollegen im Prinzip nämlich zur Seite. Ein Oberlandesgericht hatte sich geweigert, in einer Berufungsverhandlung auf das in diesem Fall vom Europarats-Kollegium angeordnete Besuchsrecht überhaupt einzugehen. Karlsruhe indes verfügte, dass hiesige Gerichte die Straßburger Vorgaben berücksichtigen und in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen, sich damit jedenfalls "gebührend auseinandersetzen" müssen. Urteile des Menschenrechts-Gerichtshofs seien in die deutsche Rechtsprechung "schonend einzupassen".
Allerdings lehnt Karlsruhe einen "unreflektierten Vollzug der Entscheidung" Straßburgs ab. Zwar betonen die roten Roben, das Grundgesetz sei "nach Möglichkeit" so auszulegen, "dass ein Konflikt mit völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht entsteht". Die Menschenrechtscharta habe freilich lediglich den "Rang eines Bundesgesetzes". Diese Konvention und die Rechtsprechung der Straßburger Instanz dienten als "Auslegungshilfen" bei der Interpretation der deutschen Verfassung, "sofern dies nicht den Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz einschränkt oder mindert". Das Grundgesetz verzichte "nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität".
Im Klartext: Letztlich hat im Streit- und Zweifelsfall das Grundgesetz Vorrang vor der Menschenrechts- charta des Europarats und den Urteilen des Gerichtshofs - und über die Auslegung der deutschen Verfassung befindet eben Karlsruhe. Sollte nach dem Muster des Caroline-Beispiels mal wieder in einem Fall um die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrechten und Pressefreiheit gerungen werden, so müssten sich hiesige Gerichte an der Linie der roten Roben orientieren - was im Interesse der Medien wäre. Sollte dann wiederum Straßburg angerufen werden, würde erneut ein Konflikt aufbrechen.
Luzius Wildhaber möchte zwar "keinen Streit mit dem Bundesverfassungsgericht". Ihm komme es auch nicht auf den formellen Rang der Straßburger Konvention und Rechtsprechung in der Bundesrepublik an. Aber der Präsident des Gerichtshofs insistiert, dass Deutschland die Menschenrechtscharta ohne Vorbehalt unterschrieben habe. Entscheidend sei, dass die Straßburger Urteile vollzogen werden.
Der Machtkampf zwischen Blauschwarz und Rot ist nicht entschieden. Wildhaber treibt noch eine andere Sorge um: dass der Streit mit Karlsruhe die Autorität des Europarats-Gerichtshofs auf dem ganzen Kontinent untergraben und nationale Instanzen veranlassen könnte, Straßburger Urteile zu missachten. Inzwischen hätten sich nämlich, so der Präsident, "Anfragen aus anderen Staaten gehäuft, ob man sich wirklich in allen Punkten an unsere Entscheidungen halten müsse. Das freut mich nicht."