FRANKREICH
Im Kampf um den Elysée holt Außenseiter François Bayrou immer mehr auf
Frankreichs Präsidentschaftswahlkampf hat Fahrt aufgenommen. Noch-Präsident Jacques Chirac stieg inzwischen aus - zur Erleichterung der meisten Franzosen, die Mitte Mai ein neues Gesicht im Elysée-Palast sehen wollen. Aus dem erwarteten Duell zwischen der sozialis-tischen Spitzenkandidatin Ségolène Royal (53) und ihrem konservativen Rivalen Nicolas Sarkozy (52) ist längst ein spannender Dreikampf geworden. Der liberale Zent-rumspolitiker François Bayrou (56) rückt den beiden aussichtsreichsten Kandidaten immer dichter auf die Pelle.
Niemand hatte ihn auf der Rechnung. Frankreichs Medien, aber auch die Umfra-geinstitute hatten sich völlig auf das vermeintliche Duell zwischen "Jeanne d?Arc" und "Bonaparte" kapriziert und dabei fast übersehen, dass sich im Windschatten ein Mann aus der Provinz, der vor fünf Jahren mit gut sechs Prozent der Stimmen noch auf Platz vier gelandet war, wie ein Eichhörnchen von Ast zu Ast nach oben arbeitete. Die Abstände zu den beiden Führenden werden von Umfrage zu Umfrage geringer - ein Zeichen dafür, dass Frankreichs politische Landschaft in Bewegung geraten ist. Bayrous Aufstieg ist vor allem ein Beleg dafür, wie tief das Misstrauen der Franzosen gegenüber ihren klassischen Volksparteien von links und rechts inzwischen geworden ist.
Der neue Shooting-Star, Chef der Mini-Partei "Neue Union für die Demokratie" (UDF) mit gerade 35.000 Mitgliedern, genießt die plötzliche mediale Aufmerksamkeit, die Aufregung in den Wahlkampfzentralen der Sozialistischen Partei (PS) und der "Union für eine Volksbewegung" (UMP), die bislang gedacht hatten, das Rennen unter sich auszumachen. Vor allem Madame Royal, deren schlichter Wahlkampf niemanden vom Hocker reißt, setzt die unerwartete Konkurrenz sichtlich zu. Bayrou wildert vor allem in ihrem Revier. Royal, eben noch die aparte "Madonna der Umfragen" und "Mutter der kleinen Leute", übte sich schon in vorzeitigen Schuldzuweisungen, warf den Spitzen der eigenen Partei bereits vor, sie allzu lang allein gelassen zu haben. Das ähnelte fast schon einem Offenbarungseid.
Je näher der Wahltag rückt, desto größer wird die Nervosität bei den Favoriten. Im Spitzengremium der Sozialisten wird fast schon handgreiflich über die richtige Strategie gestritten. Laurent Fabius, Anführer des Nein-Lagers beim EU-Verfassungsreferendum, fordert einen weiteren kräftigen Linksschwenk. Dominique Strauss-Kahn, der Vertreter des sozialdemokratischen Reformflügels in der PS, propagiert das Gegenteil, den Schwenk zur Mitte, um Bayrou das Wasser abzugraben. Wenig freundliche Schlagzeilen über die Vielstimmigkeit im sozialistischen Haus sind die Folge.
Auch Sarkozy hat Bayrous Aufstieg auf dem falschen Fuß erwischt. Ein weiteres Mal hat der Noch-Innenminister die Tonart seines Wahlkampfs ziemlich abrupt geändert, flirtet inzwischen wieder zunehmend mit dem rechten Rand, um dort jene Stimmen zu fischen, die ihm der Zentrumspolitiker womöglich in der Mitte klaut. Dabei weiß niemand, wie verlässlich die Umfragen eigentlich sind. Gut die Hälfte der Wahlberechtigten gab sechs Wochen vor dem ersten Wahlgang an, sich noch nicht festgelegt zu haben. Selbst jene, die sich heute vorstellen können, für den Außenseiter Bayrou zu stimmen, haben Zweifel, ob sie dies am 22. April auch wirklich tun werden.
Sicher ist nur: Das Vertrauen in die politische Klasse war noch nie so gering wie in diesem Wahljahr. Sechs von zehn Wählern geben an, weder der Linken noch der Rechten zuzutrauen, das Land gut zu regieren. Frankreichs politisches System steckt - nach Vorstadt-Unruhen, CPE-Jugendaufstand und verlorenem EU-Verfassungsreferendum - tief in der Glaubwürdigkeitskrise.
Nach den Arbeitern, die schon in den 90er-Jahren den etablierten Kandidaten und Parteien den Rücken kehrten und massiv den Rechtsextremen Le Pen unterstützten, sprechen inzwischen auch zwei Drittel der Angestellten sowie jeder zweite Lehrer, Freiberufler und Landwirt PS und UMP offen ihr Misstrauen aus. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, das teure Leben, Angst, den Lebensstandard nicht auf Dauer halten zu können, die Sorge um die berufliche Zukunft der Kinder bedrücken die Franzosen in diesem Wahlkampf noch weit mehr als vor fünf Jahren. Damals profitierte der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen vom zentralen Wahlkampfthema Kriminalität und von wachsender Unsicherheit.
In die Lü-cke, die die anderen hinterlassen, springt Bayrou. Verlockend ist für viele, die das Links-Rechts-Muster der französischen Innenpolitik leid sind, Bayrous Angebot, Frankreich künftig mit "gesundem Menschenverstand" und mit einer Art Großer Koalition nach deutschem Vorbild zu regieren. Dem französischen Politikverständnis und dem Mehrheitswahlrecht, das nur Sieger kennt, entspricht das nicht. "Bayrous Ansatz beruht auf der populistischen Idee, ,wenn sich nur alle die Hand reichen, bilden wir ein nettes Team von Kumpeln, die Frankreich regieren'", spottete der Historiker Jacques Julliard. "Frankreichs aktuelle Schwierigkeiten sind aber nicht darauf zurückzuführen, dass die staatlichen Institutionen schlecht funktionieren, sondern hängen zusammen mit dem Verfall der politischen Sitten und dem tiefen Koma des sozialen Dialogs."
Da ist viel Wahres dran. Doch Bayrous unaufgeregt vorgetragene Ideen haben Charme und ziehen Kreise. Vor allem auf dem Land punktet der Sohn eines Kleinbauern, der sich mit Traktoren und Fruchtfolgen auskennt. Linke Wähler, die Royal partout nicht leiden können oder ihr den Präsidenten-Job schlicht nicht zutrauen, entdecken in dem Mann mit den markanten Segelohren plötzlich eine Alternative, um Sarkozy auch ohne sie noch stoppen zu können.
"Wir, Sozialis-ten und Franzosen der Linken, bekennen uns zu unserer Unterstützung für Bayrou", erklärten bereits einige PS-Funktionäre unter dem sinnigen Pseudonym "Spartacus" im linksliberalen Blatt "Libération". Für das Wahlprogramm Royals, ein "Versandhaus-Katalog", hatten sie nur Spott übrig. "Bayrou ist der einzige, der Sarkozy schlagen kann." Auch Alt-Sozialisten, die aus ihrer Abneigung gegen Royal seit langem kein Hehl machen, sind in Bayrous Lager übergelaufen. Auf den Fluren der Pariser Parteizentrale am Musée d?Orsay herrscht fast schon Untergangsstimmung, werden Messer gewetzt für den Tag nach der ersten Runde. Eine brandgefährliche Lage ist das für Royal, die in der Gefahr schwebt, am 22. April das Schicksal Jospins zu erleiden, der vor fünf Jahren in der ersten Runde scheiterte. Ein Trauma war das für die Partei Mitterrands, das bis heute nachwirkt. "Alle Welt kann tief fallen", orakelte bereits Gérard Le Gall, der Herr der Umfragen in der PS. Denn auch die Linke jenseits der PS, deren Stimmen Royal für die Stichwahl dringend braucht, ist in erschreckend schwachem Zustand. Die grüne Spitzenkandidatin Dominique Vernet dümpelt entlang der Ein-Prozent-Marke, profitiert in keiner Weise vom ökologischen Wirbel, den der Umwelt-Aktivist Nicolas Hulot noch Ende letzten Jahres entfacht hatte. Die Kandidatin der Kommunisten, Marie-George Buffet, kommt ebenso wenig aus dem Umfragetief wie die Trotzkis-tin Arlette Laguiller, die bereits zu ihrer sechsten Präsidentschaftswahl antritt. Die extreme Linke, die vor fünf Jahren noch gut zehn Prozent eingefahren und Jospin damit entscheidende Prozentpunkte weggenommen hatte, hätte derzeit Mühe, eine deutsche Fünf-Prozent-Hürde zu überspringen.
Wie ein Staubsauger zieht Bayrou die Stimmungen auf seine Person, ganz so, als habe das müde Land auf einen beruhigenden Mittler wie ihn nur gewartet. "Ich war nie ein Pariser, habe stets in dem Dorf gewohnt, wo ich geboren bin", grenzt sich Bayrou von den Eliten der Pariser Kaderschmieden ab, die das Land seit Jahrzehnten fest im Griff haben. Soviel Volksnähe kommt an. Selbst in Saint-Denis im Pariser Armengürtel wird er gefeiert, als sei schon gewählt.
"Alle Kinder der Einwanderung sollten für ihn stimmen", rief der Minister für Chancengleichheit, Azouz Begag, voller Überschwang aus. Während der Vorstadtunruhen hatte Begag, der von links kommt, aber einer rechten Regierung dient, sich noch einen heftigen Disput mit Sarkozy geliefert, dessen rüdes Vokabular die Emotionen in den vernachlässigten Vorstädten noch kräftig angeheizt hatte. Für neue Debatten sorgte, dass Sarkozy sich in einem deutlichen Rechtsschwenk für ein neues "Ministerium für Einwanderung und nationale Identität" aussprach. Ein Zickzack-Kurs ist das, der auch im eigenen Lager Fragen aufwirft.
Umso geschickter präsentiert sich der sechsfache Vater, Hobby-Pferdezüchter und Lehrer Bayrou aus der Pyrenäen-Region Béarn im laufenden Wahlkampf als Mann des dritten Weges. Er empfiehlt sich auch bürgerlichen Wählern, die Sarkozys Machthunger und Ehrgeiz fürchten. Das lässt Bayrou für Sarkozy zur Gefahr werden. Selbst Le-Pen-Wähler, die dem bald 79-jährigen Vormann der "Nationalen Front" keine Wiederholung des Coups von 2002 zutrauen, liebäugeln inzwischen mit Bayrou, um Sarkozy, der in ihren Augen zu freundlich mit dem Islam umgeht und Zugewanderte protegiert, den Weg in den Elysée zu versperren. Merkwürdige Schlachtordnungen bilden sich in diesen Wahlkampfwochen.