HANS-GERT PÖTTERING
Wie weiter mit dem Klima? Der Präsident des Europäischen Parlaments erwartet
schwere Entscheidungen.
Beim EU-Frühjahrsgipfel am 8. und 9. März haben Sie erstmalig als Präsident des Europaparlaments neben Bundeskanzlerin Angela Merkel 26 Staats- und Regierungschefs gegenübergesessen. Was haben Sie da empfunden?
Wenn man die richtigen Überzeugungen hat, die man dort vortragen kann, ist das ein Gefühl der Dankbarkeit und der Freude, dass man ein wenig mitwirken kann, an dem was für Europa notwendig ist.
Die Notwendigkeit des Klimaschutzes ist unumstritten. Sie hatten im Vorfeld höhere CO2-Grenzwerte beschlossen, als die, die dann letztlich auf dem Gipfel vereinbart wurden. Wird das Europaparlament da "nachbessern"?
Die Vorschläge der Präsidentschaft, des Parlaments und der Kommission sind von der gleichen Überzeugung getragen, dass es nicht fünf vor zwölf, sondern eine Minute vor zwölf ist, und wir handeln müssen. Der einzige Unterschied bestand darin, dass das Parlament eine CO2--Reduktion von 30 Prozent bis 2020 fordert, ohne das - im Gegensatz zum Europäischen Rat - vom Handeln anderer abhängig zu machen.
Erwarten Sie, dass sich einzelne Abgeordneten für höhere Ziele einsetzen?
Es wird jetzt das normale Gesetzgebungsverfahren notwendig sein. Das heißt, die Kommission wird einen Vorschlag unterbreiten und dann werden Parlament und Rat darüber beraten. Das wird natürlich sehr umfangreiche Diskussionen und schwere Entscheidungen mit sich bringen.
Der zweite "dicke Brocken" der Präsidentschaft ist der Verfassungsvertrag...
Es gibt im Grundsatz eine Verpflichtung aller 27 Mitgliedstaaten für dieses Vertragswerk - auch wenn er vielleicht am Ende anders heißen mag. Wenn es der Lösung dienlich ist, dass der Begriff nicht mehr Verfassungsvertrag ist, sondern er vielleicht Vertrag für die Zukunft Europas heißt, wäre das auch in Ordnung. Am Ende ist der Inhalt wichtiger als der Titel.
Sie sprechen davon, dass Sie die "Substanz" der Verfassung verwirklichen wollen. Was meinen Sie damit konkret?
Zur Substanz rechne ich die Reformen, die im Teil eins beschrieben sind. Ich zähle auch den Teil zwei dazu, in dem unsere Werte aufgeführt sind. Werte und Reformen gehören zusammen. Vieles von Teil drei scheint für mich verzichtbar zu sein, weil es ja das gegenwärtige Recht beschreibt. Die darin enthaltenen Elemente hingegen, die sich auf Teil eins beziehen, müssen natürlich Bestandteil des Vertrages sein.
Glauben Sie, dass es eher auf einen neuen "Mini-Vertrag" oder auf Änderungen am bestehenden Vertrag hinauslaufen wird?
Der französische Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy verwendet den Begriff "Mini-Vertrag" nicht mehr. Für uns bedeutet die Realisierung, dass die Substanz verwirklicht wird, und das ist weit mehr als "mini"- und notwendig für die Bewältigung der großen Fragen.
Welche Fragen sind das?
Für mich sind das die Globalisierung, der Klimaschutz, die Immigration, der Dialog der Kulturen sowie auch die Bekämpfung des Terrorismus, für die wir neue Strukturen brauchen.
Es gibt aber auch Staaten, wie zum Beispiel Polen, die durchaus Interesse daran haben, bestimmte Regelungen, zum Beispiel bei der Stimmenverteilung des Nizza-Vertrages, zu erhalten?
Ich habe mehrfach gesagt, dass Polen sich auf die Solidarität der gesamten Europäischen Union in der Energiefrage verlassen können muss. Auf der anderen Seite kann Polen nicht erwarten, dass es sich gegen die anderen 26 durchsetzt, wenn es die Nizza-Regelung aufrechterhalten will. Solidarität gilt für alle. Und Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern immer ein zweiseitiger Prozess. Es hat mich gefreut, dass der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski in der Pressekonferenz nach dem Gipfel davon gesprochen hat, Europa sei ein Kompromiss. Wir alle müssen Kompromisse machen und flexibel handeln. Also ich sehe bei den polnischen Partnern doch Bewegung.
Welches sind für Sie wichtige Punkte der Berliner Erklärung?
Ich bin zuversichtlich, dass in dieser Erklärung das Erreichte gewürdigt wird, das heißt, dass sich die Europäische Union auf einer Wertebasis entwickelt hat, und dabei ist der Freiheitswillen der Menschen von Bedeutung. Dann die Würde des Menschen, Menschenrechte, das Recht, die Solidarität, die Subsidiarität, all die Werte, die die Europäische Union begründen.
Die Verhandlungen finden aber hinter verschlossenen Türen statt. Inwiefern kann sich das Parlament noch einbringen?
Ich habe einen Beauftragten, meinen Kabinettschef, der im ständigen Gespräch mit den Verhandlungsführern der Bundesregierung ist. Wir werden uns nicht durch eine Resolution vorher festlegen, denn dann hätte ja der Präsident keinen Verhandlungsspielraum mehr.
Sie sind fast seit drei Jahrzehnten Mitglied des Europaparlaments. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Das Parlament ist heute selbstbewusst und einflussreich. Als wir unsere Arbeit mit der ersten Parlamentswahl 1979 begannen, hatte das Parlament nur geringe Befugnisse und keinerlei gesetzgeberische Kompetenz. Heute sind wir gleichberechtigter Gesetzgeber mit dem Ministerrat in 75 Prozent der Gesetzgebung und wir haben in manchen Fragen sogar die Führung übernommen, denken Sie an die Dienstleistungsrichtlinie. Das Europäische Parlament ist heute ein wirklicher Machtfaktor der Europäischen Union.
Kritiker werfen der EU auch gerade mit Blick auf das Parlament ein Demokratiedefizit vor?
Wir sind noch nicht am Ziel. Das Glas, was die Mitentscheidung in der Gesetzgebung angeht, ist dreiviertel voll - nicht nur halbvoll. Jetzt geht es darum, das letzte Viertel noch zu füllen, damit das Parlament in allen Fragen gleichberechtigter Gesetzgeber wird und das wird ja mit wenigen Ausnahmen mit dem Inhalt des Verfassungsvertrages erreicht.
Welche Aufgaben haben denn dann noch die nationalen Parlamente?
Wir haben das Prinzip der Subsidiarität und das heißt überall da, wo das Europäische Parlament keine Zuständigkeit hat, bleibt es bei den nationalen Zuständigkeiten. Wir wollen ja nicht einen europäischen Superstaat, sondern eine starke, handlungsfähige Union, die die Vielfalt in Europa ausdrücklich gewährleistet. Die Nationalstaaten werden weiter ihre Rolle haben.
Wie gehen Sie mit der rechtsextremen Fraktion im Europäischen Parlament um?
Ich bedaure, dass es zur Bildung dieser Fraktion gekommen ist, aber sie nimmt Rechte wahr, die sich aus der Geschäftsordnung des Parlaments ergeben und das ist zu respektieren. Ich empfehle, dass wir uns inhaltlich, politisch mit dieser Gruppierung auseinandersetzen.
Noch eine ganz persönliche Frage: Sie gelten als geduldig, hartnäckig und als ein Mann des Ausgleichs. Wie sehen Sie sich selber?
Ich glaube, dass diese Beschreibung im Grundsatz richtig ist. Meine politische Erfahrung ist, dass man Ziele haben muss und diese Ziele immer klar im Blick haben muss. Und dafür brauchen sie Leidenschaft, inneres Engagement, aber auch Geduld. Man muss immer wissen, wann ist was erreichbar: mal treibend und mal geduldig.
Wo sehen Sie Europa im Jahr 2057?
Als eine starke, handlungsfähige, demokratisch Europäische Union, die sich auf unsere fundamentalen Werte gründet - ein starkes Europa, das seinen Friedensbeitrag in der Welt leistet.
Das Interview führten
Sabine Quenot und Annette Sach
Hans-Gert Pöttering (CDU) ist seit 2007 Präsident des Europäischen Parlaments.