Das Kreuz mit dem Kopftuch
Die Verbindungen zwischen Okzident und Orient sind enger, als manchen lieb ist
Man kann lediglich ihren exakten Zeitpunkt nicht vorhersagen, aber sie kommen bestimmt: Vergleiche mit dem Nationalsozialismus oder mit Hitler selbst gehören zu emotional aufgeladen Debatten (nicht nur) in Deutschland scheinbar dazu. Ihre argumentative Kraft scheint so gewaltig, dass ihr Gebrauch auch nicht auf bestimmte politische und gesellschaftliche Akteure beschränkt bleibt. So erlebt man immer wieder Überraschungen. Zum Beispiel diese: Alice Schwarzer, in den 70er-Jahren Vorkämpferin des deutschen Feminismus, verkündete in einer großen deutschen Tageszeitung: "Das Kopftuch ist das Zeichen, das die Frauen zu den anderen macht. Als Symbol ist es eine Art ,Branding', vergleichbar mit dem Judenstern." Nach solch einem Statement kann jede Debatte nur noch verstummen. Was ließe sich schon erwidern, wenn man dieser Logik folgen würde?
Es widerspricht jedoch der Relevanz der Diskussion, sie mit dem verbalen Vorschlaghammer führen oder gar beenden zu können. Deshalb verstummen die Stimmen auch nicht, die sich zum Kopftuch-Streit und damit zum Verhältnis der westlichen zur islamischen Kultur äußern. Mit ihrer umfangreichen Untersuchung "Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen" verlängern die beiden Kulturwissenschaftlerinnen Christina von Braun und Bettina Mathes die lange Kette der Beiträge um ein weiteres Glied. Allerdings um eines, das sich in dieser Kette immer wieder verhakt und auch verhaken soll: "Wenn es den Schleier nicht schon gegeben hätte, der Westen hätte ihn erfinden müssen, um seine vielen Phantasien vom Selbst im Spiegel des ,Orients' unterzubringen", lautet die provokante These. Ihr liegt die Vermutung zugrunde, dass die westlichen Gesellschaften einen Teil ihrer unbewussten, verdrängten Fragen an das Kopftuch verwiesen haben, "das so zur Leinwand einer Vielzahl von Projektionen des westlichen Ichs geworden zu sein scheint". Um diese Verdrängungen geht es, man könnte auch sagen, um verschüttete Elemente westlicher Zivilisation und Kulturgeschichte, die in der Tat ein interessantes Licht auf die Debatte werfen.
Ausgelassen wird dabei nichts: Schriftsysteme, die frühe Symbolik von Kreuz und Schleier, Buchdruck, Wissensgesellschaft, Fotografie und Film, die Strukturierung des öffentlichen Raumes, Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse sowie die Geschichte der Prostitution, des Sextourismus' und des Geldes. Auf 430 Seiten entsteht nicht nur ein kulturgeschichtliches Panorama des Okzidents. Ohne den Austausch mit dem Orient, ohne die Einflüsse und Abgrenzungen, die beide Kulturkreise verbinden, ist es nämlich nicht zu verstehen. Deshalb geht es immer um Orient und Okzident gleichermaßen, um den Dialog beziehungsweise den darunter liegenden Subtext. Den Leitfaden bilden dabei die unterschiedlichen Geschlechterordnungen, da sie, so die Autorinnen, das "Terrain sind, auf dem das Unbewusste jeder Kultur am deutlichsten agiert".
Tatsächlich geraten gerade heute beide Kulturkreise vor allem auf diesem Gebiet emotional und unberechenbar aneinander. Die Situation der Frauen wird zum Kristallisationspunkt, an dem der Beweis für die Modernität des anderen erbracht beziehungsweise widerlegt wird: Für den Westen impliziert der Schleier Unterdrückung und Rückständigkeit des Islams. Im Morgenland sieht man in der Vermarktung nackter oder halbnackter Frauenkörper in der Werbung einen Beweis für deren Degradierung zur "Ware" in westlichen Gesellschaften.
Doch so klar und eindeutig sind die Realitäten eben nicht. Zur Reduzierung des Schleiers auf ein Unterdrückungsinstrument und damit auch der Frauen auf einen Opferstatus passt Folgendes nicht: Fereshta Ludin floh vor dem Regime der Taliban nach Deutschland. Die junge Referendarin war es zugleich, die mit ihrer Weigerung, das Kopftuch im Schuldienst abzunehmen, 1998 den Kopftuch-Streit in Deutschland entfachte.
Die Journalistin Julia Gerlach spürte in ihrem Buch "Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland" einem Phänomen nach, das sie als "Pop-Islam" bezeichnet. Es meint eine in der islamischen Welt entstandene Jugendbewegung, die Werbung machen möchte für einen friedlichen oder ihrer Meinung nach wahren Islam. In diesen Gruppen engagieren sich mehr junge Frauen als Männer. Eine von ihnen, die junge Selda Yilmaz, brauchte ein Jahr, um ihren Vater dazu zu bringen, seinen Widerstand gegen ihren Studienwunsch aufzugeben. Sie hat sich durchgesetzt. Aber sie trägt ein Kopftuch: "Ich habe darüber nachgedacht, ob ich mein Kopftuch abnehmen soll. Das würde mir das Leben in vieler Hinsicht erleichtern, auch wenn ich einen Job suche. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich nur ich sein kann mit dem Kopftuch. Es gehört zu meiner Persönlichkeit."
Alice Schwarzer oder Necla Kelec scheinen solche Stimmen, und es sind nicht wenige, zu überhören. Die Entscheidung junger Frauen für das Kopftuch kanzelt die Frauenrechtlerin Kelec in einem Interview ab: "Wenn Menschen sich freiwillig zu einem faschistischen System bekennen, dort glücklich und überzeugt sind, kritisieren wir das doch auch." Damit erweist Kelec der nötigen Diskussion einen Bärendienst.
Mit derartigen Vereinfachungen haben Christina von Braun und Bettina Mathes nichts am Hut. Es ist ihr großer Verdienst, diese kritisch zu hinterfragen und vor allem an einem Bild zu kratzen, das den jahrelangen Streit um das Kopftuch im westlichen Denken fest verankert hat: Islam, Rückständigkeit und Intoleranz bilden darin eine symbiotische, statische Einheit, die schon immer vorhanden war, und deren sichtbarster Ausdruck das Kopftuch ist.
Für alle jene, die sich noch nicht mit Religionsgeschichte beschäftigt haben, ist es zum Beispiel sehr interessant zu erfahren, dass der Schleier keine islamische Erfindung ist, sondern "in Auseinandersetzung mit den älteren (vorislamischen) Kulturen und den beiden anderen monotheistischen Religionen - Judentum und Christentum - übernommen wurde". Zur Zeit der Entstehung des Islams im 7. Jahrhundert war die Verschleierung der Frau in den christlichen Regionen des Nahen Ostens, in Byzanz und im Mittelmeerraum gängige Sitte. Die Christen wiederum hatten sie von den Syrern, Juden und Griechen angenommen. Erst seit dem 9. Jahrhundert gehörte der Schleier verbindlich zur Kleidung der islamischen Frauen der Oberschicht, diente zunächst also mehr der sozialen Distinktion.
Die Geschichte des Schleiers war also zugleich eine des interkulturellen Austausches. Wo heute die Fronten verhärtet sind, sollte man sich daran erinnern: Es waren islamische Herrscher, die im Laufe des 7. und 8. Jahrhunderts Universitäten gründeten, viele Jahrhunderte bevor die ersten christlichen Universitäten entstanden. An diesen Universitäten forschten christliche, jüdische und islamische Gelehrte gemeinsam. Zwar rezipierte das christliche Europa dieses Wissen, doch im Verlaufe dieser Aneignung gingen zugleich seine Wurzeln verloren. Das Kapitel über die Wissensordnungen von Orient und Okzident gehört zu den interessantesten des Buches. Es widerlegt das Bild eines per se rückständigen Islams, das meist mit seiner Sakralität begründet wird. Zu Recht machen die Autorinnen darauf aufmerksam, dass Religion nicht als Argument für Innovationshemmnisse taugt, denn "viele Innovationen der christlichen Gesellschaft verdankten sich keineswegs der Überwindung sakralen Denkens, sondern gingen daraus hervor".
Noch in einem anderen Punkt rücken sie das Bild zurecht: Der Vergleich von Kreuz und Kopftuch macht deutlich, dass nicht nur letzteres als politisches Symbol verstanden werden kann. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass das christliche Kreuz Jahrhunderte lang ein Symbol der Macht war, weltliche (und nicht immer friedfertige) Macht repräsentierte und legitimierte - auch dies ein Kapitel, das in der Diskussion meist keine Rolle spielt.
In ihrem Anliegen, das Kopftuch aus der reinen Unterdrückungsperspektive herauszuholen, schießen die Autorinnen aber übers Ziel hinaus. Indem sie dessen Schutzfunktion überbetonen, tritt sein repressives Element, das ihm zweifellos eigen ist, zu sehr in den Hintergrund. Über ägyptische Studentinnen schreiben sie: "An den Universitäten und in öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es nicht die traditionelle Segregation. So wird für diese Frauen der Schleier zu einem Mittel, sich zu schützen (...) Durch den Schleier erobern sich Frauen ihren Anteil an der Welt draußen." Aus westlicher Perspektive ist das ein hoher Preis, den keine Nicht-Muslimin für ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bezahlen möchte und zum Glück auch nicht muss. Dies so zu empfinden, sollte nicht nur mit verdrängten Projektionen, sondern auch als Ausdruck eines Menschenrechts erklärt werden, das es zu verteidigen gilt.
Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen.
Aufbau-Verlag, Berlin 2007;
476 S., 24,95 ¤