PalÄstina
Joseph Croitoru präsentiert eine umfassende Studie zur islamistischen Hamas
Der erste Palästinenser-Präsident, Jassir Arafat, hatte gute Gründe, die Parlamentswahlen in den Jahren 2004 bis 2005 immer wieder zu verschieben. Denn er wusste, dass nicht seine Fatah, sondern die islamische Opposition die Mehrheit der Wähler in den Autonomiegebieten hinter sich haben würde. Sie punktet mit ihrem massiven sozialen Engagement und verfügt über eine hervorragende Organisation sowie einen massiven Propagandaapparat.
Nach Arafats Tod war es so weit: Am 25. Januar 2006 gewann die islamistische Organisation Hamas die ersten demokratischen Parlamentswahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten: Während sie 74 von insgesamt 132 Parlamentssitzen gewinnen konnte, erhielt die mit Korruptionsvorwürfen konfrontierte Fatah nur noch 45 Mandate. Seitdem boykottieren Israel, die USA und die EU sowie Präsident Mahmud Abbas und seine Fatah die legitim an die Macht gewählte Hamas-Regierung. Die weigert sich, das Existenzrecht Israels anzuerkennen und fordert ein Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge in die 1948 und 1967 von Israel besetzten Gebiete.
Hamas wurde am 14. Dezember 1987 von der radikalen Muslimbruderschaft gegründet. Der Name der Organisation ist ein Akronym aus dem Arabischen und steht für "Islamische Widerstandsbewegung". Den langen Weg von den Anfängen der Muslimbruderschaft 1928 in Ägypten über die Intifada bis zum Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 beschreibt der in Haifa geborene Historiker und freie Journalist Joseph Croitoru detailliert. Seit seiner Übersiedlung nach Deutschland im Jahr 1988 ist er vor allem den Lesern der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" bekannt. Croitorus Studie knüpft an das erste deutschsprachige Buch über die Hamas an, das die Politologin Helga Baumgarten verfasste. Dabei profitiert seine Arbeit von ihren Kenntnissen und ihrer ausführlichen Quellenanalyse der Hamas-Flugblätter und anderer Dokumente.
In einer verständlichen Sprache erläutert Croitoru, wie es dazu kam, dass sich die islamische Weltgemeinde, die "umma", wieder mit der Palästina-Frage beschäftigte. Dabei erfährt der Leser, dass die der Fatah nahe stehenden Terroristen ihre Brigaden nach der Jerusalemer Al-Aksa Moschee benannten, um so die außerordentliche Bedeutung dieses Gotteshauses in der islamischen Tradition für ihre Propaganda zu nutzen. Überzeugend ist auch die auf Primärquellen basierende Darstellung des "Heiligen Krieges": Croitoru schildert die Wurzeln des "Dschihad", seine unterschiedlichen Interpretationen sowie den aktuellen religiösen Kampf gegen Israel.
Im Rahmen der Entstehungsgeschichte der Hamas präsentiert der Autor eine in Israel umstrittene These: Diese besagt, dass die israelischen Militärbesatzung bewusst bei der Bildung einer religiösen Konkurrenzorganisation zur säkular orientierten PLO geholfen zu haben. Es überrascht nicht, dass dies vom israelischen Militär kategorisch abgestritten wird. Croitoru stellt jedoch fest, dass in Israel kein politisches Konzept über die Zukunft Palästinas existiert habe. "Was zählte, war (…) Prozesse zu blockieren, die zu Terrorakten führen könnten. In diesem Zusammenhang sagte man damals, lasst als Gegengewicht zur PLO den Islam gedeihen", zitiert der Autor Brigade-General a.D. Benjamin Ben-Elizer, der in den besetzten Gebieten zwischen 1983 und 1984 tätig war. Die Palästinenser sollten sich "lieber mit Gott als mit dem Terrorismus beschäftigen". Auch ein "iranisches Szenario", also die islamische Erweckung Palästinas, sei von Tel Aviv nicht ausgeschlossen worden.
Abgesehen von dieser Theorie wird der Leser keinen Hinweis darauf finden, dass die israelische Siedlungs- und Besatzungspolitik für den Konflikt mitverantwortlich sein könnte. Auch fehlen kritische Bemerkungen zur Haltung Israels gegenüber den UN-Sicherheitsrats-Resolutionen von 1948 und 1967. Die "Kolonisierung" und "nationale Unterdrückung" der Palästinenser erwähnt Croitoru nur, indem er andere Autoren zitiert - ganz so, als ob er keine eigene Meinung dazu hätte. Dabei beweist der Historiker an anderen Stellen seiner Studie, über welche hervorragenden Fachkenntnisse er verfügt. Dann hält er auch nicht mit seiner Meinung hinter dem Berg und weist darauf hin, dass die israelischen Angriffe auf die Einrichtungen der Autonomiebehörde die Regierungsfähigkeit der Fatah untergruben und der Hamas genug Argumente gegen Arafat und später Abbas lieferten.
Croitoru macht zu Recht deutlich, dass die Kollektivstrafen und Vergeltungsaktionen der Israelis die Wut der Palästinenser nicht gegen den Hamas-Terror richteten, sondern gegen den jüdischen Staat. Bereits im November 2003 erklärte der Oberbefehlshaber der israelischen Streitkräfte, General Moshe Yaalon, dass der Beschuss der in den besetzten Gebieten verschanzten Terroristen nur weiteren Terror zur Folge habe. Denn die betroffene Zivilbevölkerung unterstütze aus Rache die Terroristen, stilisiere sie zu Märtyrern und biete deren Organisationen weitere Freiwillige.
Überzeugend beschreibt Croitoru den mörderischen "Wettbewerb der Selbstmord-Organisationen" in Palästina. Informativ sind seine Hinweise auf die enge politische und paramilitärische Zusammenarbeit zwischen Hamas, Hisbollah und Iran. Allerdings sollte der Autor stärker berücksichtigen, dass weder die USA noch Saudi-Arabien - einer der Finanziers der Muslimbruderschaft und der Hamas - tatenlos zusehen werden, wie nach dem Irak auch Palästina unter Irans Einfluss gerät. Nicht zufällig griff deshalb Saudi-Arabien im Februar 2007 schlichtend in den inner-palästinensischen Konflikt ein. Anstatt diesen wichtigen Aspekt näher zu beleuchten, erörtert Croitoru lieber die künftige Bedrohung Europas durch iranische Atomwaffen sowie mögliche Nuklearprogramme Marokkos, Algeriens, Tunesiens und Saudi-Arabiens.
Abgesehen von einigen Ungereimtheiten ist Croitorus Buch über die Hamas eine der gründlichsten Studien, die derzeit über die radikal-islamische Organisation vorliegen.
Hamas. Der islamische Kampf um Palästina.
Verlag C.H. Beck, München 2007; 256 S., 19,90 ¤