Sozialgeschichte
Trotz aller Unterschiede existiert eine gesamteuropäische Gesellschaft
Trotz der Zugehörigkeit zu konkurrierenden politischen Systemen, die bis 1990 den "Osten" und den "Westen" Europas prägten, hält Hartmut Kaelble die Gemeinsamkeiten für hinreichend, um das Bild einer gesamteuropäische Gesellschaft zu zeichnen. Diese umfasse die Menschen, die in den geografisch zu Europa gerechneten Ländern leben. Russland und die Türkei rechnet Kaelble nicht zu Europa.
Während die Türkei sowohl durch ihre geografische Lage als auch wegen ihrer islamischen Tradition, die freilich auch für Albanien und Bosnien-Herzegowina gilt, und ihrer sozioökonomischen Struktur mit nachvollziehbaren Gründen ausgeschlossen wird, ist hinsichtlich Russlands, eines wichtigen Akteurs auf der politischen Bühne Europas, die Argumentation nicht schlüssig, wie Kaelble selbst einräumt. Russland ist historisch christlich geprägt und gehört nach gängiger geopolitischer Zuordnung zumindest mit einem erheblichen Teil zu Europa.
Einzuwenden ist zudem, dass das Wohlstandsniveau in den "Armenhäusern" Albanien oder Moldawien sowie der Entwicklungsstand diese Gesellschaften "weiter" von Europa entfernt als Russland.
Der Ausschluss des an Fläche und Einwohnern gemessen größten europäischen Landes ist wohl eher pragmatisch begründet. Eine so eingegrenzte Sozialgeschichte Euro-pas hält Kaelble durch die Wahl seiner Methode für darstellbar. Sein sozialhistorischer Ansatz umfasst:
1) Gesellschaftliche Lebenslagen, wozu Arbeit, Familie, Konsum, Werte und Religion gehören.
2) Soziale Ungleichheiten nicht nur zwischen Klassen, Schichten oder Milieus, sondern auch zwischen den Geschlechtern, Eingessenen und Zugewanderten sowie den Generationen.
3) Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat, Sozialstaat, Bildung und Gesundheit.
Diese Kategorien begründen die Struktur des Buches, in dem ihnen jeweils ein Hauptkapitel gewidmet ist.
In der europäischen Gesellschaft sind im Ergebnis erhebliche Divergenzen festzustellen, nicht nur die gravierenden Entwicklungsunterschiede zwischen "Ost" und "West", sondern auch zwischen reichen Zentren und armer Peripherie oder auch zwischen großen und kleinen Nationen.
Auf der anderen Seite sieht der Autor eine Reihe von Konvergenzen in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Zum einen betreffe das einen Wertewandel in allen europäischen Ländern von traditionellen zu postmateriellen Werten. Hinsichtlich der Europäischen Union ist in wirtschaftlicher Hinsicht von einer signifikanten Wohlfahrtszunahme zu sprechen.
Von außereuropäischen Gesellschaften unterscheide sich Europa durch eine generell hochbewertete Rolle des Staates für die soziale Sicherheit. Weitere Annäherungen sieht Kaelble beim Massenkonsum oder bei der Entwicklung der Familie, die im Gegensatz zu außereuropäischen Ländern nach außen abgeschirmt und weit überwiegend als Kernfamilie strukturiert war und ist. Der Trend zu neuen Lebensgemeinschaften umfasst zudem weite Teile der europäischen Gesellschaft.
Ähnlichkeiten finden sich auch hinsichtlich der Bedeutung der Arbeit, die in Europa überwiegend als von der Freizeit getrennt, dennoch aber häufig als ein Ort der Selbstverwirklichung angesehen wird.
Kaelble sieht auch bei der Einstellung zur Gewalt ein europäisches Spezifikum. Die Abschaffung der Todesstrafe, das staatliche Gewaltmonopol oder die Ächtung häuslicher Gewalt gegen Kinder habe zu einer im internationalen Vergleich niedrigen Kriminalitätsrate beigetragen.
Nicht zuletzt war Europa im 19. und 20. Jahrhundert ein Auswanderungskontinent. Das hat sich grundlegend geändert. Europa ist Ziel sowohl geregelter als auch irregulärer Zuwanderung.
Überzeugend ist die Wahl des untersuchten Zeitraumes. Die Argumentation, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges eine singuläre Zäsur in der europäischen Geschichte bedeute, ist gut begründet. Europa verlor seine dominierende weltpolitische Bedeutung an die USA und die, nach Kaelble, nur teil- europäische UdSSR.
Zugleich begann nach 1945 ein bis heute andauernder Siegeszug der liberalen Demokratie. In vielen Gesellschaften entwickelte sich ein differenzierter Wohlfahrtsstaat. Nicht zuletzt entstanden wichtige kontinentale Institutionen. In vielen Ländern trugen Bürger- oder Sozialbewegungen zum sozialen und politischen Wandel bei.
Das Fazit lässt bei aller aktueller Problematik des europäischen Einigungsprozesses - etwa der bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterte Verfassungsvertrag - hoffen. Denn bei allen Rückschlägen stellt sich doch die europäische Sozialgeschichte als Erfolg heraus. Sieht man vom Balkankrieg ab, so hat es noch nie eine so lange Friedensperiode in Europa gegeben. Bei allen nationalen Unterschieden und den gegenwärtigen Problemen verfügen zudem viele europäische Staaten über ein vergleichsweise hohes Maß an sozialer Sicherheit. Kaelble arbeitet in diesem Kapitel die unterschiedlichen "Entwicklungspfade" zwischen nord- und südeuropäischen oder den spezifisch angelsächsischen Traditionen akribisch heraus.
Unter dem Strich ist die europäische Sozialgeschichtsschreibung Hartmut Kaelbles als weitgehend gelungen zu bezeichnen. Diese Bewertung bezieht sich auf die offengelegten Untersuchungskriterien und auf die Orientierung am historischen Längsschnitt; vor allem aber auf die klare Dik- tion, die sein Buch gut, zuweilen gar spannend lesbar werden lässt.
Hartmut Kaelble: Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart.
Verlag C.H.Beck, München 2007, 512 S., 38 ¤