Ausgezeichnet
Michail Ryklin und Gerd Koenen erhalten "Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung"
Die großen Buchmessen haben für die Autoren einen erfreulichen Nebeneffekt: Sie gehen mit Preisverleihungen einher. Die Nachricht "Sie haben gewonnen" löst jedoch nicht nur Freude über die Ehrung aus, sondern auch über das Preisgeld, welches das Buchhonorar nicht selten übertrifft. In diesen Tagen dürfen sich der russische Philosoph Michail Ryklin und der deutsche Historiker Gerd Koenen freuen: Sie werden mit dem "Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung" geehrt.
Mit dem seit 1994 jährlich vergebenen Preis würdigt das Kuratorium - die Stadt Leipzig, der Freistaat Sachsen, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Leipziger Messe GmbH - Persönlichkeiten, "die sich in Buchform um das gegenseitige Verständnis in Europa, vor allem aber mit den Ländern Mittel- und Osteuropas, verdient gemacht haben". Die Stifter des mit 15.000 Euro dotierten Preises sehen in der Verständigung zwischen den europäischen Völkern eine besondere Aufgabe der traditionsreichen Buch- und Buchmessestadt, die sie mit der Verleihung unterstützen wollen.
Gerd Koenen entschlüsselte mit seiner hervorragenden Arbeit den "Russland-Komplex" der Deutschen. Dazu erforschte er die Wurzeln unseres Russland-Bildes und den Drang gen Osten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Michail Ryklin suchte exemplarisch mit seiner Streitschrift zu beweisen, dass sich Russland unter Präsident Wladimir Putin in ein religiös-nationalistisches Ungetüm entwickelt hat.
Anschaulich berichtet Ryklin über seinen Prozess: Zusammen mit seiner Frau, der Künstlerin Alla Altschuk, und dem Moskauer Sacharow-Zentrum ging er ein Jahr lang durch die Hölle der russischen Justiz. Zur Sache: Am 14. Januar 2003 fand im Sacharow-Zentrum die Eröffnung der Ausstellung "Achtung, Religion!" statt. Die Exponate zeigten vor allem christliche Motive, die häufig nur andeutungsweise zu erkennen waren oder entfremdet dargestellt wurden. Vier Tage später griffen Mitglieder der Kirchengemeinde des Heiligen Nikolaj die Kunstobjekte an, bespritzten sie mit Farbe oder zerstörten sie gleich ganz. Während die Randalierer von einem Moskauer Bezirksgericht freigesprochen wurden, verurteilte es die Organisatoren der Ausstellung zu Geldstrafen. Die Beschuldigung lautete lapidar: "Schüren nationalen und religiösen Zwistes".
In Russland sorgte der Prozess für Aufsehen. Wie zahlreiche bekannte und einflussreiche russische Künstler und Politiker zeigte auch Metropolit Kiril, nach dem Patriarchen die Nummer 2 in der Russisch-Orthodoxen Kirche, Verständnis für die Kunstschänder. Schließlich habe die Ausstellung die Menschen provoziert und die "Gefühle der Gläubigen verletzt". Mehr noch: Die Kritiker der Ausstellung bezeichneten die Organisatoren als "Satanisten" und warfen ihnen die gezielte Beleidigung des Christentums vor. Besonders interessierte sie jedoch, warum die Künstler keine jüdischen oder muslimischen Motive gewählt hätten.
Mit seinem wütenden Pamphlet "Mit dem Recht des Stärkeren" zerstört Ryklin die letzten Illusionen über die russische Verfassungswirklichkeit, die die staatliche Moskauer Propaganda im Westen zu verbreiten sucht. Danach soll die "gelenkte Demokratie" - gestützt auf die "Vertikale der Macht" - zu einem russländischen Demokratieverständnis führen. Nachdrücklich erhebt Ryklin Einspruch gegen den von Putins Chefideologen Wladislaw Surkov eingeführten Begriff der "souveränen Demokratie", der impliziere, Russland sei ein Rechtsstaat.
"Wir sind Zeugen eines Prozesses, in dem sich ein neuer Autokratismus etabliert", schreibt der Moskauer Autor. Er vergleicht Putins Russland mit der Weimarer Zeit in Bayern, der "Wiege des Nationalsozialismus". Auch in Russland herrsche "eine stark religiös-nationalistische Stimmung" und eine "jahrhundertealte Gewöhnung an den Autoritarismus". Ryklin kritisiert Präsident Putins "kontrollierte Demokratie", die für ihn keine exotische eurasische Variante dieser Herrschaftsform darstellt, sondern ein Instrument, um die Etablierung von Demokratie, Aufklärung, Rechtsstaatlichkeit und Gewissensfreiheit in Russland zu verhindern.
Der russische Philosoph befürchtet, dass man seine jüdische Familie "in diesem Land früher oder später zugrunde richten" könnte. Deshalb denkt er an Emigration, weil ihn seine Lage "an die Situation derer erinnerte, die unter dem faschistischen Regime aus rassischen oder politischen Gründen verfolgt wurden". Dieser falsche Vergleich des heutigen Russland mit Hitler-Deutschland unterstreicht einmal mehr die mangelnde Qualität dieser Streitschrift. Anstatt die objektiven demokratischen Fehlentwicklungen des russischen politischen Systems aufzuzeigen und zu analysieren, begleicht der Wissenschaftler nur eine persönliche Rechnung mit dem "lupenreinen Demokraten" Putin und seinem Herrschaftsgebaren.
Ryklins Fazit lautet: "Ein Gespenst geht um in Russland, das Gespenst des religiösen Nationalismus und der Intoleranz, und was es als nächstes erzürnen kann, weiß niemand. Die äußeren Zeichen der Orthodoxie, mit denen es sich schmückte, sichern ihm in Zukunft den Ablass für jedes Vergehen".
Die wichtigen gesellschaftspolitischen Entwicklungen, die Ryklin streift, kommen am Ende zu kurz: vor allem seine Warnung vor der Gefahr des russischen Neofaschismus, der auf Fremdenhass und Antisemitismus basiert. So warb die Partei "Rodina" (Heimat), deren Vorsitzender Dmitrij Rogosin ein gern gesehener Gast in Berlin ist, in einem Wahl-Werbespot damit, "Russland vom Müll zu befreien". Mit "Müll" sind Kaukasier und Zentralasiaten gemeint, billige Arbeitskräfte, die von russischen Skinheads mit staatlicher Duldung verfolgt und ermordet werden.
Im Unterschied zu Ryklins Abrechnung handelt es sich bei der Monographie von Gerd Koenen "Der Russland-Komplex" um eine professionell recherchierte und glänzend geschriebene historische Studie über die Orientierungen der Deutschen nach Osten in der Zeit vor, während und zwischen den beiden Weltkriegen.
1944 in Marburg geboren, war Koenen in den 1970er-Jahren ein linksradikaler Aktivist, der als Redakteur für die "Kommunistische Volkszeitung" tätig war. In den 80er- und 90er-Jahren arbeitete er als Lektor und freier Journalist für Hörfunk und Printmedien. Seinen hervorragenden Ruf und seine internationale Anerkennung als Historiker verdankt er seiner wissenschaftlichen Mitarbeit an Lew Kopelews Projekt "West-östliche Spiegelungen". Nicht von ungefähr widmete Koenen sein neuestes Werk seinem einstigen Mentor.
Auf Grund seiner jahrelangen intensiven Archiv-Recherchen zählt der freie Publizist heute zu den besten Kennern der deutschen Ostpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unter dem "Russland-Komplex" der Deutschen versteht Koenen sowohl die Faszination, die von Russland ausgeht als auch die Russlandphobie, konkret die Angst vor Bolschewismus und der viel beschworenen "roten Gefahr". Von Anfang an prägen also beide Tendenzen die deutsch-russischen Beziehungen: Furcht und Liebe, eine Art Hassliebe zu Russland, die sich unter anderem in der tiefen Verehrung für die geniale russische Literatur ausdrückt, während sich die Politik der Beherrschung des Ostens verschrieben hatte.
In seinem Werk räumt Koenen zudem auf mit dem berühmt-berüchtigten Historikerstreit Ende der 80er-Jahre in Deutschland: Er widerlegt die Kontrahenten der damaligen Debatte, in deren Folge der deutschen Geschichtswissenschaft über Jahrzehnte ein Maulkorb verpasst und die Fahne der "political correctness" hochgehalten wurde.
"Rom oder Moskau", Westen oder Osten? Diese hamletianische Frage zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat erst die Bundesrepublik Deutschland nach 1949 eindeutig beantwortet mit ihrer klaren Hinwendung zum Okzident - also zu "Rom" - und zu den westlichen Demokratien. Dass "Moskau" den Weg nach Westen nicht einschlagen will und stattdessen lieber ein eigenes "russländisches Demokratiemodell" vorantreibt, belegt die Herrschaft einer Partei und die Verfassungswirklichkeit im Land, die mit westlichen Demokratievorstellungen nichts zu tun hat.
Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der "gelenkten Demokratie".
Edition Suhrkamp, Frankfurt/M. 2006; 239 S., 10 ¤
Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten.
Verlag C.H. Beck, München 2005;
528 S., 29,90 ¤