provokativ
Ian Buruma über die Niederlande nach dem Mord an Theo van Gogh
Selten hat ein Mord eine Gesellschaft so bewegt. Am Morgen des 2. November 2004 warf der 26-jährige Mohammed Bouyeri den Regisseur Theo van Gogh in Amsterdam von seinem Fahrrad und ermordete ihn mit enormer Brutalität. Er schoss ihm in den Bauch, schnitt ihm die Kehle durch und hinterließ einen Brief mit einem Schwall islamistischer Hasstiraden und einen Aufruf zum Mord an der Parlamentarierin Ayaan Hirsi Ali. Bis heute sind die Niederlande nicht, was sie einmal waren.
In den ersten Tagen und Wochen nach dem Mord aber erlebte das Land einen Ausnahmezustand ohne Vorbild. Landesweit war die Polizei im Einsatz. Das Militär wurde in Alarmbereitschaft versetzt. Über dem Regierungssitz wurde der Luftraum gesperrt. Der Vizepremier Gerrit Zalm ließ sich mit dem Satz zitieren, der "Dschihad" habe die Niederlande erreicht: "Wir sind im Krieg." Ein Reporter sagte: "Das Land brennt."
Die Aufregung in dem traditionell eher phlegmatischen Polderland zog auch einen für seine pointierten Kulturbetrachtungen auf der ganzen Welt bekannten Autor an: Ian Buruma, Journalist, Historiker und Professor in New York, kehrte in das Land zurück, das er Mitte der 70er-Jahre als 24-Jähriger verlassen hatte. "Mit dem Auftrag eines amerikanischen Magazins in der Tasche", notiert er in leichtem Understatement, "beschloss ich eine Zeitlang in den Niederlanden zu bleiben". Dort angekommen stellte er als allererstes fest, dass die veröffentlichte Wahrnehmung ihn getäuscht hatte: "In Wirklichkeit brannte das Land überhaupt nicht", schreibt Buruma, "die meisten Leute bewahrten ruhig Blut." Dennoch blieb Buruma ein ganzes Jahr und schrieb 250 Seiten, die zu dem besten gehören, was in den vergangenen Jahren über das kleine Land im Umbruch geschrieben wurde.
Buruma macht sich auf einen langen Weg, der am Ende mehr als eine Reise durch die Welt des Opfers Theo van Gogh und des Täters Mohammed Bouyeri sein wird. Er trifft all die Leute, von denen er glaubt, dass sie ihm etwas über den Mord oder einen der beiden Beteiligten erzählen können. Dazu gehören die Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali und der Kritiker des Multikulturalismus, Paul Scheffer, der Amsterdamer Bürgermeister Job Cohen und diverse andere Politiker. Es gehören dazu Freunde und Verwandte Theo van Goghs und Pim Fortuyns. Er schreibt aber auch über den Prozess gegen Mohammed Bouyeri, dessen Familie, die Schulen und den Imam des Marokkaners, der bis zu seiner Tat als nahezu perfekt integriert galt.
Entstanden ist eine Reportage die den Protagonisten so nahe kommt, dass sie vor dem Auge des Lesers allesamt zum Leben erweckt werden - das gilt für das Opfer Theo van Gogh ebenso wie für den Mörder. Unaufgeregt, nüchtern, fast emotionslos porträtiert Buruma die Beteiligten und verliert ein Ziel nie aus dem Auge: Dem Leser, nicht zuletzt dem ausländischen Leser, ein Sittenbild des Landes zu liefern, das einst eine Bastion religiöser Freiheit und Toleranz war und in dem eben diese Toleranz heute beinahe zum Schimpfwort geworden ist.
Buruma tut aber noch etwas: Er übt offen Kritik an jenen, die - auch und gerade dem europäischen - Islam unverrückbar westliche Werte entgegenhalten: Die heute in den USA lebende und in den Niederlanden mit dem Tode bedrohte Ayaan Hirsi Ali bezeichnet er als "radikal" - als radikale Anhängerin einer Aufklärung, die wie jede andere Ideologie zum Dogma geworden ist. Europas Reaktion auf den Islam nehme selbst fundamentalistische Züge an - das suggeriert Buruma immer wieder. Dafür wird er - und in Ländern, in denen das Buch bereits auf Englisch erschienen ist, hat er das bereits - Protest ernten. Gut so. Die Debatte ist eröffnet.
Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh.
Carl Hanser Verlag, München 2007, 256 S., 19,90 ¤