Wettstreit der Deutungen
Die Geschichte des Kalten Kriegs aus deutscher und amerikanischer Feder
Es spukt wieder in den Köpfen: Das Schreckgespenst vom "Kalten Krieg". Der russische Staatspräsident Wladimir Putin hat es auf der Münchener Sicherheitskonferenz aus der Mottenkiste internationaler Beziehungen geholt und die Amerikaner mit fast schon Chruschtschowscher Deutlichkeit angegriffen. Und die Medien titelten fleißig mit dem "neuen Kalten Krieg". Kaum einer der Beobachter bemüht sich jedoch, in den Annalen des einstigen Systemkonflikts zu blättern, der eine ganz andere Statik besaß als die heutige Sicherheitsarchitektur.
Zugegeben, bis dato konzentrierten sich die meisten Studien auf einzelne Phänomene und Phasen der Konfrontation. Ein differenziertes Gesamtbild war mit Ausnahme komprimierter Überblicksdarstellungen bislang nicht zu haben. Jetzt aber liegen gleich zwei Darstellungen vor, die diese Epoche in ihrer ganzen Breite, Länge und Tiefe beleuchten wollen. John Lewis Gaddis, renommierter Geschichtsprofessor aus Yale, spricht im Untertitel seines Buches vollmundig von einer "neuen Geschichte" und sein Fachkollege Bernd Stöver vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschungen hat sich nicht weniger vorgenommen als eine "globale Geschichte des Kalten Krieges".
Doch der wissenschaftliche Ehrgeiz ist fast schon das einzige, was die beiden Historiker eint. Ihr Ansatz, ihre Ansichten und ihr Stil könnten unterschiedlicher nicht sein. Der reife amerikanische und der tatendurstige deutsche Historiker liefern sich quasi einen friedlichen Wettstreit um die Deutung dieses spektakulären Zeitalters. Stöver wertet im Gegensatz zu Gaddis die fast ein halbes Jahrhundert währende Konfrontation nämlich nicht als "langen Frieden", sondern als "permanenten und aktiv betriebenen ‚Nicht-Frieden'", der mehr Konflikte verursacht als verhindert hat und in der Dritten Welt Millionen Opfern forderte. Und das ist nicht der einzige blinde Fleck in Gaddis' Weltsicht.
Die "Frontlinien" sind also klar gezogen und woher der ideologische Wind beim Amerikaner und woher er beim Deutschen weht, wird schnell klar. Trotz seiner Kritik an einzelnen amerikanischen Entscheidungen ist Gaddis fest davon überzeugt, dass der Kalte Krieg notwendig war und von der "richtigen Seite gewonnen wurde". Der patriotisch unbeleckte Deutsche argumentiert differenzierter und hinterfragt den angeblichen Sieg des Westens, spart weder Licht- noch Schattenseiten aus. Stöver analysiert umfassender und umsichtiger, während Gaddis prosaischer im Stil und pointierter im Urteil ist.
Man ist jedoch gut beraten, mit dem Standardwerk zu beginnen, als das Stövers Darstellung bald gelten dürfte. Seine Studie ist wohltuend weit entfernt von den bisherigen "historischen Meistererzählungen", die den Amerikanern beziehungsweise den Sowjets den Kalten Krieg in die Schuhe schoben oder versuchten, beider Schuld zu relativieren. Stöver setzt diesen wichtigen, aber doch "zeitgebundenen" Arbeiten "eine globale, multilineare und auf vielfache Weise politisch, kulturell, wirtschaftlich verflochtene Geschichte" entgegen, "in der sich gleichzeitig die unterschiedlichsten historischen Erfahrungen und politischen Sichtweisen verbinden".
Diese komplexe Aufgabe meistert er mit wissenschaftlicher Bravour. Denn er versteht die unzähligen Ereignisse, Entscheidungen und Entwicklungen einleuchtend zu strukturieren, maßvoll zu analysieren und ihre weltpolitische Bedeutung abzuwägen. Stöver sucht nicht nur die bekannten Stätten des Ost-West-Konflikts wie Berlin, Korea, Kuba oder Vietnam auf, sondern beobachtet auch die von ihm mittelbar entfachten Krisen im Nahen Osten, Afrika, Süd- und Mittelamerika. Mit dieser weit gefassten Perspektive offenbart sich der globale Charakter des Kalten Krieges, in dem das reflexartige Prinzip von Reaktion und Gegenreaktion vorherrschte und die Furcht vor oder die Drohung mit der Atombombe den Handlungsspielraum zugleich erweiterte und begrenzte.
Diese allseitige Sichtweise wäre nicht weiter hervorzuheben, wenn er die jeweiligen Krisen nicht so konzise und ausgewogen beschriebe. Selbst historische Laien gewinnen ein scharfes Bild von den Positionen und Absichten aller Akteure, was angesichts der vielschichtigen Interessenlagen eine besondere analytische Leistung ist. Er wagt aber auch den Sprung in interdisziplinäre Gefilde und schreitet die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder kulturellen Felder des Kalten Krieges ab. Schließlich festigten oder lockerten diese Faktoren die Positionen der Supermächte im Wettstreit der Weltanschauungen und Einflusssphären. Seine Ausflüge in die Alltagskultur etwa zeigen, wie rasch sich der ideologische Dualismus in den Köpfen breit machte. Wahlen zur "Miss Atomic Bomb" oder Songs wie "Tic, Tic, Tic (you give me a radioactive kick)" von Doris Day illustrieren den naiven und alltäglichen Umgang mit den nuklearen Gefahren in den 1950er-Jahren.
Bei allen ideologischen Eigenheiten, die Stöver den USA und der UdSSR attestiert, streicht er auch die spiegelbildlichen Verhaltensweisen in Ost und West heraus. So war der sorglose Umgang mit atomarem Abfall auf beiden Seiten ebenso verbreitet wie die ungeschützte Teilnahme von Soldaten an Atomtests. Sowohl die Pläne für einen atomaren Schlagabtausch als auch die Maßnahmen zur Unterstützung befreundeter und feindlich gesonnener Staaten sahen in beiden Blöcken oft ähnlich aus. Ganz zu schweigen vom Gleichklang der gegenseitigen rhetorischen Diffamierungen.
Dem 46-jährigen Historiker geht es nicht um die Schuldigen oder Gewinner des Kalten Kriegs, sondern um die gültige Beschreibung eines einmaligen weltpolitischen Systems, in dem "selbst begrenzte Veränderungen (...) fast immer komplexere Wirkungen" auslösten und das sich fundamental von der heutige Situation unterscheidet.
Von einer systemtheoretischen Verortung des Konflikts im Geiste eines Niklas Luhmann sowie von einer mehrdimensionalen Sicht der Dinge ist Gaddis' Ansatz meilenweit entfernt. Er konzentriert sich auf die überlegene Rolle der USA, während die Sowjetunion als Aggressor in seiner bipolaren Welt fungiert. Von einer "neuen Geschichte" kann also kaum die Rede sein. Es ist vielmehr die erste Gesamtschau aus seiner Feder. Geschrieben für ein größeres "Publikum von Nichthistorikern, die den Kalten Krieg noch miterlebt haben" und die "erste Nachkriegsgeneration des Kalten Krieges". Verfasst für den amerikanischen Leser, der auf leicht kritische, letztlich aber doch positive Weise über die eigene Geschichte aufgeklärt sein möchte.
Dementsprechend klar und deutlich positioniert sich Gaddis. Er schildert die Hauptkonflikte und -akteure in kräftigen Worten, Bildern und Farben. Stalin, Chruschtschow und Breschnew erscheinen als expansionshungrige Machtpolitiker, denen die amerikanischen Präsidenten Einhalt gebieten mussten und sich im Kampf für eine bessere Welt sogar genötigt sahen, die völkerrechtswidrigen Mittel ihres Feindes zu übernehmen. Insgeheim scheint er diese Politik sogar zu rechtfertigen, wenn sie nur der guten, also amerikanischen Sache dient.
All diese eindimensionalen Entwicklungen spickt er mit originellen Anekdoten, personalisiert und psychologisiert die Entscheidungen der Kontrahenten. Gewiss wirken die Kombattanten bei ihm lebensnäher und authentischer als bei Stöver, aber die Vielfalt der Sichtweisen und Themen geht unweigerlich verloren. Alles, was seine finale Geschichtserzählung stört, wird verharmlost oder nur am Rande erwähnt. Über die Rolle der Geheimdienste, den Kommunistenjäger McCarthy oder die Menschenrechtsoffensiven von US-Präsident Carter erfährt der Leser so gut wie nichts. Stattdessen gelten Ronald Reagan, dem "fähigsten Strategen" der USA und einer Reihe andere Persönlichkeiten wie Lech Walesa, Margaret Thatcher oder Papst Johannes Paul II. seine Sympathien. Ihr unerschrockener Antikommunismus habe Gorbatschow maßgeblich beeinflusst und den Sieg der Demokratie herbeigeführt. Wer die komplexe Geschichte des Kalten Krieges in ihren Grundzügen dermaßen einseitig und vereinfacht darstellt, unterliegt im Wettstreit der Deutungen. Bernd Stöver geht aus diesem wissenschaftlichen Zweikampf eindeutig als Sieger hervor.
Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947-1991.
Verlag C.H. Beck, München 2007; 528 S., 24,90 ¤
Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte.
Siedler,
München 2007; 384 S., 24,95 ¤