Literaturbetrieb
Zwischen der Spitze des Elfenbeinturms und der literarischen Wirklichkeit
Es muss im Jahr 27 n. B. (nach Billy) gewesen sein, als auf dem Frankfurter Hauptfriedhof ein Sarg zu Grabe getragen wurde, in dem, wenn nicht das ganze Abendland, so doch ein gewichtiger Teil von diesem ruhte. Selten zuvor werden die Friedhofsgärtner in der Mainmetropole ein Erdloch gegraben haben, in dem streng genommen nicht eine Person, sondern eine ganze Kultur hätte Platz finden müssen. Das, was an diesem Wintermorgen über die Bühne ging, war wahrlich keine gewöhnliche Beerdigung. Es war der Abschied von einer Institution, dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld.
Was hat man seit diesem Novembertag nicht alles lesen müssen über die Erbschaftskriege im Hause Suhrkamp - über Aufstiegs- und Untergangsmythen, über Macht- und Entmachtungsspielchen. Der Verlag, der in den 70er-Jahren die 68er vor zu früher geistiger Auszehrung bewahrte, leidet nach dem Tod seines Verlegers selbst an intellektuellem Burnout. Schlimmer noch: Es gibt Kritiker, die sehen die Unseld-Erben an der Frankfurter Lindenstraße in eine Art publizistisches Wachkoma gefallen.
Eigentlich wäre das Stoff für eine Tragödie. Dass sie bis dato niemand geschrieben hat, könnte daran liegen, dass im deutschen Literaturbetrieb nahezu alles tragödienwürdig geworden ist. Seit jenem Tag auf dem Frankfurter Friedhof scheint nichts mehr wie es einmal war. "Nicht erst durch Unselds Tod, aber mit ihm wird ein liebgewordenes intellektuelles Koordinatensystem zu Grabe getragen", so das Fazit des Literaturkritikers Uwe Wittstock in seinem gerade unter dem Titel "Die Büchersäufer" erschienenen Streifzügen durch den Literaturbetrieb.
Sollte irgendein Verlag in absehbarer Zeit einen Autor für diese deutschen Tragödien aus dem Land der Bücher suchen, Wittstock, einstiger Literaturredakteur bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", wäre genau der richtige. Der gebürtige Leipziger verfügt über niederdrückende Insiderkenntnisse aus Verlagsimperien und Buchhandlungsketten, hat sich aber dennoch jenen Galgenhumor bewahrt, der den hölzernen Kulturpessimisten abgeht.
Bis also ein solch großer Wurf geordert wird, hat sich Wittstock in "Die Büchersäufer" ganz der Ortung der Stoffe verschrieben. So berichtet er vom Kunstbuchverleger Benedikt Taschen, der die "strenge Kunst des Bauhauses" ebenso zu Geld macht, wie die "strenge Kunst des Bondage", von der Buchhandlungskette Thalia, die im Jahr 30 nach Billy einen Umsatz von 550 Millionen Euro erzielt hat und von Gerda Brencher, einer gebrechlichen Kleinbuchhändlerin, der im Schatten der Megastores allmählich die Puste ausgeht.
Und dann schildert Uwe Wittstock noch die eigentliche Revolution auf dem Buchmarkt: die Erfindung von "Billy", jenem längst mythischen Regal aus dem Hause Ikea, bei dem Form und Funktion auf so perfekte Weise zueinandergefunden haben, dass dieses 1975 erstmals verkaufte Regal unsere Zeitrechnung verändert hat. "In Billy", so der Autor, "kommt unsere Zeit zum Bewußtsein ihrer selbst".
All diese kleinen Episoden, sie kommen derart beschwingt daher, dass der Leser zuweilen vergisst, wie wenig komisch der Verdrängungswettbewerb auf dem Buchmarkt tatsächlich ist.
Aber als Kritiker ist Wittstock selbst Teil der Branche; und vom Galgen, da sieht die Welt eben anders aus. Wohl auch aus diesem Grund hat Wittstock am Ende seines Buches noch eine Empfehlung bei der Hand: Wer die Tragik in der Literaturszene wirklich verstehen will, der sollte sich die letzten Worten einstiger Szenegänger zu Gemüte führen. Nun ist aus dem Hause Suhrkamp nichts dergleichen überliefert. Dafür aber gibt es die Abgangszeilen Edith Sitwells. Als man sich noch einmal nach deren Befinden erkundigte, soll die Dichterin geantwortet haben: "I am dying, but otherwise quite well."
Die Büchersäufer. Streifzüge durch den Literatur-betrieb.
Zu Klampen Verlag, Springe 2007; 173 S., 16 ¤