China
Aufstieg und Fall und eines kapitalistischen Revolutuionärs - eine Spurensuche
Was wissen wir schon über die Volksrepublik China? Dass ihr wirtschaftlicher Einfluss so stark geworden ist, dass die Wall Street bebt, wenn in Schanghai der Börsenkurs in den Keller geht. Dass 500 Millionen Chinesen rauchen. Dass Peking bei Entscheidungen im Weltsicherheitsrat nur seine eigenen Interessen im Blick hat. Dass der Leistungssprung chinesischer Sportler den vordersten Platz bei den nächsten Olympischen Spielen in Peking erwarten lässt. Dann haben wir noch von Umweltschäden gewaltigen Ausmaßes gehört, von Hungersnöten neben der Gigantomanie der Boomtowns an der Südküste des fernen Landes, groß wie ein Kontinent.
Ausgerechnet ein deutscher Journalist hat das Talent, dem Leser die fremde Welt und den Alltag der Chinesen in all seinen Facetten nahezubringen. Oliver August war bis zum vergangenen Jahr China-Korrespondent der Londoner "Times". Schon bald nach seiner Ankunft in Peking fasziniert ihn die Geschichte von Lai Changxing, einem der reichsten Männer des Landes, der wie kein anderer Chinas kapitalistische Revolution verkörpert. Hohe Politiker gingen bei Lai ein und aus, doch dann verließ ihn das Glück. Bei der Kommunistischen Partei in Ungnade gefallen, wurde er, Sohn armer Bauern, wegen der Verwicklung in den größten Fall von Schmuggel und Korruption angeklagt und musste über Nacht untertauchen.
Dies allein ist lebendiger Stoff genug für einen pa-ckenden Roman. Doch Oli-ver August hat die Gabe, seine recherchierte Geschichte über den Aufstieg und Fall des roten Tycoons Lai einzubetten in ein faszinierendes Porträt Chinas auf seinem Weg ins 21. Jahrhundert. Der Autor überlässt es dabei dem Leser, ob die journalistische Suche nach dem heimlichen Herrscher von Chinas Wirtschaft im Mittelpunkt des Handlungsgeflechts steht oder die vielen fremdartig erscheinenden Geschichten, Reportagen, Interviews, die sich um die akribische Spurensuche ranken. Der literarische Kunstgriff gelingt: Auch wer sich mit dem Land beschäftigt und es vielleicht sogar bereist hat, wird von Augusts Schilderungen, den Ergebnissen zäher und gründlicher journalistischer Arbeit, tief beeindruckt sein.
Oliver August erkennt schon bald, dass die Hauptstadt nicht das geeignete Pflaster ist, um unmittelbare Einblicke in die gewaltigen Umbrüche des Kontinents zu gewinnen. Immer öfter reist er daher nach Iiamen an der Küste, wo ein freiheitlicher Geist weht und Lai sein Imperium aufgebaut hatte. Und er erlebt, dass nur ein unstillbarer Hunger nach selbst verantwortetem Leben und ein unbändiger Unternehmergeist die Energiequellen sind für den geradezu halsbrecherischen Wandel im heutigen China. Ein Umbruch, den der verknöcherte Parteiapparat mit großem Misstrauen begleitet, aber auch mit der listigen Einsicht, dass der rasante wirtschaftliche Aufstieg zuallerst denen zugute kommt, die sich zu bedienen wissen.
Lai Changxing hat diese Kumpanei zwi-schen hohen Politikern und halbseidenen Geschäftemachern früh für sich genutzt, hat Regierungsbeamte mit hohen Schmiergeldern an sich gebunden und die Gier der aus einfachsten Verhältnissen aufgestiegenen Klasse in sein Kalkül einbezogen. Lais Tatort war das politische Umfeld, in dem das Regelnbrechen die Regel ist. Denn die Wirtschaft ist, so der Autor, "eine akrobatische Mischung aus autoritärer Kontrolle und anarchischem Privatunternehmertum". Peking hat diese Zustände bewusst herbeigeführt, indem es sich weigerte, Privatbesitz zu legalisieren und die Regierungspolitik offen zu legen.
Vor seiner Flucht nach Kanada wurde der von einer verlogenen Propaganda zum Staatsfeind Nr. 1 erklärte Aufsteiger von den Webseiten zu einer Art Robin Hood erhoben, der Geld an die Armen verteilte und Häuser verschenkte. Auch viele Reiche schlugen sich auf seine Seite, um ihre eigenen Gesetzesbrüche zu rechtfertigen. Es war um so leichter, Lai mit Sympathie zu begeg-nen, als das offizielle China nach Bürgerkrieg und Kulturrevolution nach Helden geradezu lechzte.
Um den Spuren dieses Mannes und seinem unvergleichlichem Werdegang ganz nahe zu sein, zieht der Journalist schließlich nach Xiamen, knüpft mannigfaltige Kontakte und dringt immer tiefer in die Lebensgewohnheiten der Menschen dort ein. Er erfährt, dass parallel zur wirtschaftlichen Öffnung der Hunger nach Spiritualität wächst. Trotz scharfer Restriktionen treffen sich die Christen im Untergrund, oft in Privathäusern. Zugleich wächst die neue Zeit sogar über die Gräber der Ahnen hinweg, Hochhäuser werden auf Friedhöfen errichtet, auch wenn die Älteren beklagen, dass die Geister der Vorfahren gestört werden.
Oliver August folgt Lai in Nachtclubs und auf Golfplätze, wo nachts gespielt wird, um den bräunenden Sonne auszuweichen. Galt Golf bis in die 80er-Jahre noch als bourgeoise Verfehlung, so sind die Chinesen heute ganz erpicht darauf, westliche Gepflogenheiten zu übernehmen.
Als Lai in Vancouver der Prozess gemacht wird, reist der Autor nach Kanada, um den Geflüchteten endlich persönlich kennenzulernen. Die Begegnung scheint ernüchternd: Ihm sitzt ein einfacher Mann gegenüber, der den Glücksspielcharakter der chinesischen Wirtschaft genutzt hat und nun in der Ferne in die Klauen der Spielsucht geraten ist. Nach monatelangem juristischem Tauziehen wird Lai schließlich kurz vor seiner Auslieferung an die Volksrepublik aus der Haft entlassen.
Auf der Suche nach dem roten Tycoon. Chinas kapitalistische Revolution.
Eichborn Verlag,
Berlin 2007;
424 S. 22,90 ¤