Interview mit Maurice Faure (84)
Er unterzeichnete 1957 für Frankreich die Römischen Verträge. Aus seiner Sicht hätte Europa auch zu sechst eine Weltmacht werden können.
Monsieur Faure, was haben Sie empfunden, als Sie vor genau 50 Jahren die Römischen Verträge unterschrieben haben?
Es war ein Augenblick, der mich fürs Leben geprägt hat. Es ist, als ob der Vertrag tief in mir verwurzelt ist, die Erinnerungen sind bis heute präsent. Es regnete, wir saßen in dem weltberühmten Saal der Horatier und Curatier auf dem Kapitol, am Tisch die zwölf Unterzeichner, dahinter die Delegationen der sechs Länder und vor uns 500 Fotografen, die den Augenblick festhielten. Es war ein wirklich großer Tag.
Sie sind nicht nur Politiker, sondern auch Historiker. Wie beurteilen Sie aus dem Abstand eines halben Jahrhunderts diesen Gründungsvertrag?
Er war der Beginn des europäischen Abenteuers. Der Pakt war alles andere als perfekt oder vollständig. Die Frage der Währung wurde beispielsweise nur am Ende angedeutet, um darauf hinzuweisen, dass wir uns darum eines Tages werden kümmern müssen. Dasselbe galt für eine gemeinsame Verteidigung und Diplomatie. Heute muss man sich allerdings fragen, ob es richtig war, eine Union auf 27 Mitgliedsstaaten zu erweitern, die für sechs gegründet worden war.
Sie kritisieren die Erweiterung?
Sagen wir so: Europa ist ein Fakt, es existiert, egal ob mit sechs oder 27 Mitgliedern. Nach und nach wird der ganze Kontinent dazu gehören. Das ist eine gute Sache. Denn Europa bedeutet vor allem Frieden. Das darf man nicht vergessen. Europa hat eine neue Allianz zwischen den Erbfeinden Frankreich und Deutschland geschaffen. Aus dieser Verbindung ist sehr schnell eine regelrechte Partnerschaft geworden. Das galt für De Gaulle und Adenauer, Pompidou und Brandt, Giscard und Schmidt, Mitterrand und Kohl, für Chirac und Schröder. Jetzt, mit Angela Merkel, habe ich zum ersten Mal Zweifel.
Inwiefern?
Merkel, das ist mein Eindruck, blickt vor allem nach Washington. Die Allianz mit Frankreich hat für sie keine große Bedeutung mehr. Vielleicht genauso wenig wie die Allianz mit Deutschland für den nächsten Präsidenten Frankreichs. Die deutsch-französischen Beziehungen haben sich stark gelockert. Aber Europa hängt noch immer unmittelbar von den deutsch-französischen Beziehungen und dem Einverständnis zwischen beiden Ländern ab.
Wie beurteilen Sie Frankreichs Nein zum Verfassungsentwurf?
Als eine Katastrophe. Es hat Europa in eine große Lethargie gestürzt.
In Frankreich drückte sich in der Abstimmung ja eine Angst vor Europa aus, das sich gegen die Bedrohungen der Globalisierung nicht behaupten kann. Was erwidern Sie diesen Leuten?
Europa hat in der Vergangenheit keine gute Werbung für sich gemacht. Es war immer eine Angelegenheit der Regierungen. Die Bevölkerungen der einzelnen Länder hatte nie viel damit zu tun, was auch die sagenhafte Unwissenheit vieler Menschen erklärt, die gar nicht ahnen, wie sehr sie von Europa profitieren.
Wo liegt denn der Fehler? Das Volk überhaupt befragt zu haben oder vorher nie eingebunden zu haben?
Natürlich darin, es nicht eingebunden zu haben.
Oft wird ihre Freundschaft mit dem deutschen Unterhändler Walter Hallstein beschworen. Im Nachhinein wirkt das wie politische Romantik. Inwiefern hängt der Erfolg solcher Verhandlungen tatsächlich von einzelnen Menschen ab?
Es hängt sehr von den Unterhändlern ab. Manchmal genügt ein kleiner Auslöser. Bei Hallstein und mir hat es ihn gegeben. Wir sind während der Verhandlungen zu guten Freunden geworden, was uns die Niederschrift des Vertrages wirklich erleichtert hat.
Denn wir konnten uns daraufhin sehr leicht in die Haut des anderen versetzen. Jeder kannte die Probleme und Bedenken des anderen. Es gab ein wirkliches Einverständnis zwischen uns. Was nicht heißt, dass er in jedem Fall Frankreich und ich immer Deutschland nachgab. Aber es ist uns als den Hauptverhandlungspartnern gelungen, ein grundlegendes Einverständnis herzustellen, so dass auch die schwierigen Fragen niemals unlösbar erschienen.
Was geschah, wenn die Verhandlungen ins Stocken gerieten?
Wenn es um sehr sensible Fragen ging, wurden die Staatschefs in den Elysée-Palast gebeten und Adenauer hatte seine ganz eigene Methode. Er blieb immer im Hintergrund, ließ Hallstein und mich verhandeln. Aber ganz am Ende hörte man dann plötzlich sein "Ja". Ihm war bewusst, dass Deutschland den Krieg zu verantworten hatte und dass es an ihm war, den ersten Schritt zu tun. Aber auch wir waren kompromissbereit. Ich war damals durch das noch sehr zerstörte Deutschland gereist und hatte begriffen, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Es war wirklich an der Zeit, die Hand zur Versöhnung auszustrecken.
Wenn Sie von Europa in 50 Jahren träumen: Wie sollte dieses Europa aussehen?
In meinen kühnsten Träumen wäre Europa eine Weltmacht. Aber man stampft eine solche Macht nicht einfach aus dem Boden. Man hätte sie zu sechst aufbauen können.
Aber mit welchem Argument hätte man ernsthaft zu sechst bleiben können?
Schlicht und einfach, indem man beim Prinzip der Einstimmigkeit geblieben wäre. Indem man gesagt hätte, wir öffnen die Türen all denjenigen, die den Prinzipien und dem Text des Römischen Vertrages zustimmen.
Die Autorin ist freie Korrespondentin für verschiedene Zeitungen in Paris.