Das Goethe-Institut in Peking, das ich vor zehn Jahren besucht habe, liegt vor dem Universitätsviertel, wo damals Arbeitslose im Anhänger ihrer Dreiräder Äpfel oder andere Lebensmittel verkauften. Wenn die Polizisten kamen und ihnen hinterherjagten, mussten sie dann mit einem unglaublichen Tempo flüchten. Noch ein paar Kilometer weiter, Yuan Ming Yuan Dorf, lebten viele zugezogene Intellektueller und Künstler aus ganz China harmlos bohèmehaft zusammen, auch sie wurden aus ihren Mietwohnungen vertrieben und ihre Aufenthaltserlaubnis für Peking wurde ohne Grund beschlagnahmt. Sie landeten am Ende in einer lokalen Polizeistation, wo mehr als 50 Leute zusammen in einen kleinen Raum gesperrt wurden. Es gab keinen einzigen Stuhl, kein Wasser. Alle warteten, bis das Schicksal entschieden wurde. Manche wurden ins Umerziehungslager geschickt, manche kamen schneller raus, natürlich durch Beziehungen. Das passierte jedes Jahr, die angespannte Stimmung fing immer so im April an. Das war in den 90er-Jahren in Peking.
So ist für viele Chinesen ein "europäischer Traum" entstanden. Europa mit seinen Organisationen und Grundrechten, seiner Demokratie, Freiheit, Wohlstand und die von Gesetz festgelegte Gleichberechtigung. Für viele Chinesen ist Europa der alte Kontinent mit einem großartigen Kulturerbe und dem modernen Wohlstand Westeuropas. Auch heute noch. Die historische EU-Erweiterung bis zur Grenze Russlands haben viele Chinesen gar nicht wirklich wahrgenommen, selbst die deutsche Wiedervereinigung. Wenn ich sage, ich lebe in Ostberlin, werde ich komisch angeschaut. Die Grundwerte Europas verbinden die meisten Chinesen immer noch mit Westeuropa.
Der "Sozialstaat Europa" ist in China bekannt, die Armen werden nicht vernachlässigt, sondern unterstützt, es gibt Renten- und Krankversicherung und Sozialhilfe und das Recht auf Ausbildung. Aber wie lange das System noch durchhalten kann, und welche Unterschiede der Sozialsysteme es innerhalb Europa gibt, das sind die Fragen, die normale Chinesen nicht stellen. Dafür sind sie auch zu beschäftigt, um für das tägliche Brot zu kämpfen und für 30 bis 200 Euro monatlich bis zu 14 Stunden täglich in der Fabrik zu arbeiten. Sie würden sagen, dass es in Europa so und so ist, aber egal, ob gut oder schlecht, andere gehören dazu, nicht wir. In der wachsenden gebildeten Mittelschicht, die sich entfalten kann und Gelegenheiten hat, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, ist dieses Europa-Fieber schon längst gesunken. Aber der Mangel an Möglichkeiten des politischen Engagements ist immer noch das Leid der chinesischen Intellektuellen, somit ist die Sehnsucht nach Demokratie und Gleichberechtigung in ihnen tief verwurzelt - gepaart mit der Fantasievorstellung vom guten europäischen Sozialsystem.
Für mich ist das Nein der Holländer und Franzosen gegen die EU-Verfassung gar keine schlechte Geschichte. Der große Teil der Organe der EU ist noch längst nicht transparent genug und nicht von dessen Bürgern direkt gewählt worden. So gesehen ist es schon ein Widerspruch in der Demokratie selbst. Es mangelt auch an Geldern für Forschung, technologische Entwicklung und kulturelle Integration, wenn 40 Prozent des Budgets für Agrarsubventionen ausgegeben werden. Kulturelle und traditionelle Unterschiede und das Verständnis dafür sind auch eine zeitaufwändige Aufgabe.
Die an Demokratie gewöhnten europäischen Bürger werden nicht eine riesige Machtmaschine über sich haben wollen. Ein vereinigtes Europa wäre für Chinesen hingegen selbstverständlich. Vor über 2000 Jahren hatte der erste Kaiser von China, Qin Shi Huang, mit Gewalt Sprache, Währung und Maße vereinheitlicht. Heute sind wir also alle Chinesen, egal aus welcher Provinz wir kommen. Zuhause sprechen wir die Muttersprache oder wie es jetzt heißt: Dialekt. Nach Außen sprechen wir Mandarin, das offizielle Chinesisch. Wir alle sind Chinesen.