JAHR DER CHANCENGLEICHHEIT
EU-Kampagne will weniger Diskriminierung im Alltag. Dabei setzt sie vor allem auf ein verändertes Bewusstsein.
Die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen ist einer Umfrage zufolge weiterhin bittere Realität in Europa. 79 Prozent aller Befragten des EU-weiten "Eurobarometers" glauben, dass Behinderte gesellschaftliche Nachteile zu erleiden hätten, 77 schätzten Roma als Opfer von Diskriminierungen ein und 69 Prozent - in Deutschland 77 Prozent - waren davon überzeugt, dass Menschen über 50 Jahren nicht die gleichen Chancen erhielten. Um dieses gesellschaftliche Problem anzugehen, hat die EU 2007 zum "Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle" ausgerufen. Der Startschuss fiel auf einem Gleichstellungsgipfel Ende Januar in Berlin, auf dem die EU die ernüchternden Zahlen präsentierte. EU-Kommissar Vladimír Spidla sagte bei der Eröffnung:"Unser Rechtsrahmen zur Sicherung des Gleichheitsgebots gehört zu den vollständigsten weltweit".
Und trotzdem hat der Europäische Gerichtshof auch schon Österreich, Finnland, Deutschland und Luxemburg wegen ungenügender Umsetzung der europäischen Gesetzgebung zur Gleichberechtigung verurteilt. Das Aktionsjahr soll nun helfen, die Menschen über ihre persönlichen Schutzrechte aufzuklären. Rechtlich gründet sich die Chancengleichheit auf den Artikel 13 des Amsterdamer Vertrages von 1997: Er verbietet Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. Mit Leben füllten diese allgemeine Bestimmung vor allem zwei Richtlinien aus dem Jahr 2000, die alle Mitgliedstaaten inzwischen in nationales Recht umgesetzt haben - Opfer können sich vor Gericht gegen die Verletzung ihrer Würde wehren.
Das Bewusstsein für Chancengleichheit soll in der EU generell gefördert und eine Debatte über den Nutzen von Vielfalt anstoßen werden. Der Etat der EU für die Kampagne beträgt etwa 15 Millionen Euro, die Hälfte fließt an die beteiligten Staaten für eigene Programme. In Deutschland werden die Mittel vom Bundesfamilienministerium vergeben, das die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) mit der Geschäftsführung beauftragt hat. "Leuchtturmveranstaltungen" sollen Vertreter aller "Diskriminierungsmerkmale" nach Artikel 13 zusammenführen, dazu zählen vier Gleichstellungskonferenzen und die Gründung eines Bundesverbandes der unabhängigen Antidiskriminierungsstellen. Hinzu kommen zahlreiche kleinere Musterprojekte. So plant der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland einen Workshop für gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern, so genannte "Regenbogenfamilien", zusammen mit klassischen Familien.
Über die Umsetzung der europäischen Rahmenvorgaben durch die Bundesregierung ist eine Diskussion entbrannt. Anders als in fast allen anderen Teilnehmerstaaten müssen die mitwirkenden Verbände in Deutschland die von der EU vorgeschriebene 50-prozentige nationale Kofinanzierung, rund 624.000 Euro, zu großen Teilen selbst aufbringen, was besonders bei kleineren Gruppen erheblichen Unmut hervorruft. Die zivilgesellschaftlichen Akteure fühlen sich zudem nur unzureichend in die Vorbereitung des Jahres eingebunden, obwohl ein eigener Beirat mit den Repräsentanten zahlreicher Verbände die Kampagne begleitet. Ulrike Helwerth vom Deutschen Frauenrat, die in dem Gremium vertreten ist, und Barbara Vieweg, Geschäftsführerin der "Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland", einer Behinderteninitiative, die nicht eingeladen wurde, zeigten sich von dem Vorgehen sehr enttäuscht. In der Koordination der Kampagne durch die BAGFW sieht Volker Beck, Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, eine völlig falsche Weichenstellung: "Chancengleichheit ist keine Frage der Wohlfahrtspflege, sondern von Emanzipation, gleichen Rechten und Bürgern, die sich gegen Diskriminierungen wehren."
Die Kritik an der Strategie der Bundesregierung ändert jedoch nichts daran, dass die EU-Initiative bei den Akteuren grundsätzlich positives Echo findet. Kommissar Spidla will jedenfalls "echte und messbare Fortschritte" des europäischen Jahres. Europa müsse sich um eine echte Gleichbehandlung im täglichen Leben bemühen. Die nächste Umfrage kommt bestimmt. Noch glauben über die Hälfte, dass in ihrem Land nicht genug zur Verhinderung von Diskriminierung getan werde.