Die Europäische Union ist verstärkt darum bemüht, die Versäumnisse vergangener Jahre wieder gut zu machen und die politische und wirtschaftliche Bedeutung Indiens mit der von China gleichzusetzen. Dies lässt aber Indiens politische Elite bislang unbeeindruckt. Ihr Hauptaugenmerk liegt neben Asien auf den wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen zu den USA. Der Kooperation im Nuklearbereich wird hier eine große Bedeutung beigemessen. Mit dem Ausbau von umfassend engen Beziehungen zu Indien hatte die EU im Juni 2000 auf dem ersten europäisch-indischen Gipfel in Lissabon begonnen. Vier Jahre später wurde ein Aktionsplan zur Umsetzung der "strategischen Partnerschaf" mit Indien beschlossen. Im "Indien-Jahr 2006", als das südasiatische Land im Mittelpunkt der Hannover-Messe und der Frankfurter Buchmesse stand, hob die künftige deutsche EU-Präsidentschaft Indien als Beispiel hervor, von dem Europa lernen könne.
"Der Blick auf Indien kann uns Europäern… Mut machen", sagte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Oktober. Europa brauche eine Orientierung, die ihre Kraft nicht mehr allein oder vorwiegend aus der Vergangenheit schöpfen könne, sondern aus dem Willen, für das Europa des 21. Jahrhunderts eine gemeinsame Antwort auf die Fragen zu finden, warum die Europäer zusammen lernen und arbeiten und warum sie in einer gemeinsamen politischen Ordnung zusammen leben wollen. Dabei kann dem Minister zufolge der Kontakt mit dem "fremden" Indien helfen, das eigene Europa besser zu begreifen. Steinmeier erinnerte zugleich daran, dass "Indien eines der Länder war, die den Prozess der deutschen Wiedervereinigung von Anfang an aktiv unterstützten. Hierfür sind wir Indien dankbar." Diese Huldigung an Indien von einem europäischen Politiker ist nicht nur ungewöhnlich, sondern auch einmalig. Sie würdigt die entscheidende Rolle Indiens, die Bedeutung von Nachkriegs-Deutschland und -Europa in der globalen Politik zu einem Zeitpunkt hervorzuheben, als die Welt nur in Richtung Supermächte - USA und Sowjetunion - blickte. Indien war nicht nur das erste Land, das nach seiner Unabhängigkeit vor 60 Jahren den Kriegszustand mit Deutschland beendete, ihm kam in den 60er-Jahren auch eine Vorreiterfunktion bei der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu.
Die Ehrerweisung an Indien findet ein positives Echo bei Indern in Europa, sie findet aber kaum eine Beachtung bei den indischen Medien. Anstatt auf die Würdigung der "engen, wachsenden und dynamischen Beziehungen zwischen der EU und Indien" zu achten, wie dies jüngst das für Außenbeziehungen und die Europäische Nachbarschaftspolitik zuständige Kommissionsmitglied Benita Ferrero-Waldner während ihres Indien-Besuchs im Februar dieses Jahreskundtat, fokussiert man sich auf die harten Realitäten.
Denn die "gemeinsamen Werte und starken gemeinsamen Interessen" entlarvten sich als schiere Rhetorik, als vergangenes Jahr "Mittal Steel" ein Übernahmeangebot für das französische "Arcelor" unterbreitete und damit den Widerspruch von Politikern und Managern hervorrief. Der Vorstandsvorsitzende von Mittal Steel indischer Herkunft, Lakshmi Mittal, dessen Firma ein europäisches Unternehmen ist, wurde in indischen Medien als Nationalheld gefeiert. Europäern wurde Rassismus vorgeworfen.
Der eloquente indische Handelsminister Kamal Nath mahnte die EU-Kommission, dass die Ablehnung des Kaufangebots die Regeln der WTO verletze. Dem Argument Mittals, dass seine Firma und Arcelor europäische Unternehmen seien, die sich besser zusammenschließen sollten, um sich gegen die wachsende Konkurrenz Chinas zu wappnen, wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Solche Vorfälle stellen Europas Glaubwürdigkeit in Frage und dürfen sich nicht wiederholen, wenn sich Europa nicht den Vorwurf des "wirtschaftlichen Rassismus" einhandeln will.