Verfassung
Altbundespräsident beklagt Demokratiedefizit
Eines will Lüder Gerken betonen: Zur Debatte stehe nicht, auf eine Verfassung überhaupt zu verzichten, "uns geht es darum, den derzeitigen Entwurf entweder in essentiellen Punkten zu ändern oder ganz neu zu verhandeln". Der Direktor des unter dem Dach der wirtschaftsliberal orientierten Stiftung Ordnungspolitik angesiedelten Freiburger Centrums für Europäische Politik und Altbundespräsident Roman Herzog hatten jüngst eine massive Kritik an der auf Eis liegenden EU-Verfassung publiziert: Der derzeitige Entwurf sei abzulehnen. Kern der Botschaft: Die EU-Politik leide "unter einem Demokratiedefizit und einer faktischen Aufhebung der Gewaltenteilung", die Kompetenzverlagerung Richtung Brüssel führe zu einer schleichenden Zentralisierung. Über den größten Teil der hierzulande geltenden Gesetze beschließe über den EU-Ministerrat die Bundesregierung und nicht der Bundestag.
Es stelle sich gar die Frage, ob man die Bundesrepublik "überhaupt noch uneingeschränkt als parlamentarische Demokratie bezeichnen kann". Der Verfassungsvertrag schreibe jene EU-Strukturen fort, "die maßgeblich für die Probleme verantwortlich sind, vor denen wir heute stehen". Das Demokratiedefizit werde nicht beseitigt. Mit Herzog bekommt das Nein zur EU-Verfassung erstmals ein prominentes Gesicht. Bislang meldeten sich vor allem Kritiker aus einem ganz anderen, nämlich dem linken Lager zu Wort: So attestieren etwa Attac oder die Linkspartei dem Entwurf eine neoliberale Schlagseite.
Aber erhält der Bundestag durch die Verfassung nicht mehr Einfluss? Gerken widerspricht: Zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips gegenüber Brüssel stehe dem Bundestag keineswegs ein Klagerecht zu, vor den EU-Gerichtshof dürften vielmehr nur mehrere nationale Parlamente gemeinsam ziehen. Obendrein könnten künftig die Regierungschefs etwa in der Außenpolitik vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitsprinzip übergehen und sich so noch mehr Macht verschaffen. Gerken fügt an: "Es gibt keine präzise Abgrenzung der EU-Zuständigkeiten mittels eines Kompetenzkatalogs, der Text sieht auch nicht die Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Mitgliedsstaaten vor". Herzogs Mitstreiter: "Der Verfassungsvertrag bringt zwar Fortschritte mit sich, hat aber per saldo mehr Nachteile als Vorteile".