SOZIALPOLITIK
Informationsaustausch ist gefragter als neue Richtlinien
Kaum eine europäische Tagung, kaum eine große europapolitische Rede in diesem Jahr, in der nicht vom "sozialen Europa" gesprochen wird. Oder, noch vager und unbestimmter, von der "sozialen Dimension Europas". Was damit gemeint ist, bleibt häufig unklar. Trotzdem - oder gerade deshalb - haben die floskelhaften Formulierungen Hochkonjunktur. Gute Gründe gibt es dieser Tage genug für EU-Kommissare, Europaabgeordnete, Minister und Regierungschefs, das "Soziale" an Europa zu beschwören. Erstens, weil die Römischen Verträge 50 Jahre alt werden - und das Jubiläum zur Selbstvergewisserung über die Identität zwingt. Zweitens, weil sich das Misstrauen der Bürger Europas gegenüber der EU mehr denn je aus dem unguten Gefühl speist, die EU kümmere sich vor allem anderen um die Interessen der Wirtschaft. Gerade im vorerst letzten großen öffentlich geführten Streit, dem über die Dienstleistungs-Richtlinie, sind Vorwürfe gegen ein vermeintliches "Europa der Konzerne" wieder lautstark vorgetragen worden. Und drittens, weil sich die Staatschefs Europas zum Ziel gesetzt haben, die Verfassung zu retten. Dieses Vorhaben wiederum dürfte wohl nur dann eine Aussicht auf Erfolg haben, wenn es gelingt, Sorgen vor einem "unsozialen" Europa zu zerstreuen. Auch deswegen tüfteln Vertreter der Bundesregierung gegenwärtig in bilateralen Geheimgesprächen mit den EU-Partnern an Korrekturen und Ergänzungen des Vertragstexts, unter anderem an sozialpolitischen Bekenntnissen und Versicherungen in der Präambel.
Die Überzeugungsversuche sind schwierig. Denn dass EU-Kommission und nationale Regierungen gegenwärtig lautstark und feierlich das "soziale Europa" preisen, verstärkt vielerorts nur den Argwohn - gemäß der Alltagserfahrung: Gerade wer sich rechtfertigt, klagt sich an. Zudem gibt es ein schwerwiegendes Argumentationsproblem. Wie kann die EU eine soziale Veranstaltung sein, wenn Sozialpolitik eine nationale Domäne ist - zumindest in ihrem traditionellen Kern des leistungsverwaltenden Sozialstaats? Tatsäch- lich kennt die Europäische Union nicht einmal ansatzweise eine einheitliche Sozialpolitik, wenn es um zentrale Themen wie Rente, Arbeit oder Gesundheit geht. In den 27 Mitgliedstaaten gibt es die unterschiedlichsten Regeln, wie Menschen finanziell gesichert werden - im Alter, bei Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit. Für die Absicherung gegen wesentliche Lebensrisiken existieren 27 Regelwerke, die sich so weitreichend unterscheiden, dass sie kaum aufeinander abzustimmen wären. Aber dafür fehlt ohnehin der politische Wille. "Eine einheitliche europäische Sozialpolitik im Sinne der Harmonisierung der großen Systeme der sozialen Sicherheit halte ich auf absehbare Zeit für eine Illusion", lautet die eindeutige Prognose von EU-Industriekommissar Günter Verheugen. Und Bundesarbeitsminister Franz Müntefering stellt, auch wenn er in der Rolle als EU-Ratspräsident bei den Sozialministertreffen um europäische Fortschritte bemüht ist, klar: "Nationale Traditionen bleiben in der Sozialpolitik dominierend, nationale Regeln bleiben entscheidend."
Wie schwer es ist, sich angesichts unterschiedlicher gesellschaftlicher und politischer Traditionen auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen, beweist die seit Jahren dauernde Kontroverse über die maximale Wochenarbeitszeit. Das angelsächsische Unbehagen gegenüber gesetzlich festgeschriebenen Regeln der Arbeitsbedingungen ist mit dem französischen Wunsch nach klaren Grenzen abhängiger Beschäftigung kaum vereinbar. Nicht einmal die Festlegung der 48-Stunden-Woche kombiniert mit der ausnahmsweisen Ausdehnung auf 60 Stunden birgt aktuell die Chance auf eine Verständigung. Die Bundesregierung zieht daraus die ernüchternde Konsequenz, das Dossier unter deutscher Ratspräsidentschaft überhaupt nicht weiter zu erörtern - mangels Aussicht auf Erfolg. Von einer gemeinsamen EU-Sozialpolitik großen Stils ist die Staatengemeinschaft also meilenweit entfernt. Nicht einmal die sonst so integrationsfreudige EU-Kommission zielt auf einen einheitlichen Sozialhilfesatz von Finnland bis Rumänien oder auf eine gesetzliche EU-Rentenversicherung. So macht Katharina von Schnurbein, Sprecherin von EU-Sozialkommissar Vladimir Spidla, deutlich: "Es geht nicht um Harmonisierung, sondern um Kompatibilität. Es geht darum, den sozialen Schutz des Einzelnen sicherzustellen, den er sich erworben hat, wenn er sich in der EU bewegt." Mit anderen Worten: Brüssel hat zwar nicht im Sinn, die Sozialpolitik zu vereinheitlichen - so wie zum Beispiel die Landwirtschaftspolitik. Aber die EU wehrt sich zugleich gegen den Eindruck, dass sie deswegen überhaupt nichts zu sagen hat und dass den EU-Gesetzgebern die sozialen Rechte und Ansprüche der Bürger Europas wegen der begrenzten Möglichkeiten der eigenen Einflussnahme letztlich ohnehin schnuppe seien.
Die EU-Behörde erinnert daran, dass durch Richtlinien und Verordnungen aus Brüssel und durch Urteile des Europäischen Gerichtshofs Standards abgesichert und Schutzrechte verbrieft wurden - zum Beispiel bei der Arbeitssicherheit, die Gleichbehandlung am Arbeitsplatz und die Mobilität von Arbeitnehmern, etwa durch die Übertragbarkeit der Ansprüche auf soziale Leistungen oder die Beweglichkeit von Patienten durch vereinfachte Verfahren wie die europäische Gesundheitskarte. Bemerkenswerterweise beginnt die EU mit der Ergänzung und Flankierung nationaler Sozialpolitik bereits vom Startschuss der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an. "Die Römischen Verträge gründeten bereits auf die Ziele des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der gleichen Bezahlung von Männern und Frauen", betont ein EU-Beamter im Rückblick. Spürbar ausgedehnt wird das sozialpolitische Engagement der Staatengemeinschaft Ende der 80er-Jahre.
Nachdem in der Einheitlichen Akte (EEA) von 1987 die Vollendung des EU-Binnenmarkts konkretisiert wird, erscheint es dringlich, quasi im Gegenzug einzelne Standards für den Schutz von Arbeitnehmern festzuschreiben - insbesondere gegen Gesundheitsrisiken. Soziale Mindestnormen werden zur logischen Fortsetzung des Versuchs, gleiche Rahmenbedingungen in einem gemeinsamen Markt zu schaffen. Zehn Jahre später zählt beim EU-Gipfel von Amsterdam der Kampf gegen die Benachteiligung einzelner Gruppen zu den Kernthemen. Dem folgen im Jahr 2000 zwei weit- reichende Richtlinien über das Verbot der Diskriminierung von Arbeitnehmern wegen ihres Glaubens, ihres Alters, ihrer sexuellen Orientierung oder einer Behinderung und über die Gleichbehandlung von Menschen in allen Lebensbereichen - unbeschadet ihrer Rasse und ihrer ethnischen Herkunft.
In den nächsten Monaten wird Brüssel selbst überprüfen, ob durch die jeweilige nationale Umsetzung, etwa das deutsche Gleichstellungsgesetz, die Ziele erreicht werden. Denn 2007 hat die EU zum "Jahr der Chancengleichheit für alle" erklärt. Während in den 80er- Jahren Richtlinien und Verordnungen im Mittelpunkt standen, geht es heute verstärkt um den informellen Austausch. Vizekanzler Müntefering sagte anlässlich der Vorstellung der Ziele des deutschen Ratsvorsitzes: "Finnland zeigt, wie die Beschäftigungsquote Älterer erhöht werden kann. Und Schweden zeigt, wie Familie und Beruf besser zu vereinbaren sind". Er wirbt für eine engere Verzahnung der Sozialpolitik jenseits von der EU-Gesetzgebung.
Weitgehend auf Gesetzestexte verzichtet die EU
auch bei einer ihrer jüngsten sozialpolitischen Initiativen,
dem neuen Programm für Arbeitssicherheit. Vier Millionen
Arbeitnehmer müssen jährlich mehrere Tage aussetzen, weil
sie sich am Arbeitsplatz verletzt haben. In fünf Jahren sollen
es ein Viertel weniger Unfälle sein. Dabei vertraut
Sozialkommissar Vladimir Spidla auf eine enge Abstimmung der
Sozialpartner. Dahinter steckt die Überzeugung, dass
Gewerkschaften und Arbeitgeber eines Landes effektiver spezifische
Probleme wie etwa den Bedarf an Arbeitsschutzregeln bestimmter
besonders gefährdeter Berufsgruppen wie Landwirten oder
Matrosen lösen können als es die Europäische
Kommission vermag. Die Behörde konzentriert sich vielmehr
darauf, die Aufmerksamkeit auf von ihr gesetzte Prioritäten zu
lenken, zum Beispiel das Problem zunehmender stress-
bedingter Berufskrankheiten. Trotz ihrer Zurückhaltung in
punkto konkrete Vorgaben oder gar Gesetze macht die
Europäische Kommission auf diese Weise durchaus dort auch
ihren Einfluss geltend.
Immer häufiger bestätigen europäische Regierungsvertreter ihre Überzeugung, dass dieser Weg des von Brüssel initiierten, aber formlosen Dialogs in der Sozialpolitik wirkungsvoller sei als der Versuch, sich auf irgendwelche EU-Verordnungen zu einigen. "Sehen Sie", berichtet ein Minister hinter vorgehaltener Hand, "wir haben doch alle die gleichen Probleme, etwa bei der Finanzierung der Sozialsysteme. Wenn mich nun ein Kollege auf Basis eigener Erfahrungen, und zwar guter wie schlechter, berät, kann ich damit zu Hause punkten. Deshalb sind bei den Ratssitzungen Erfahrungsberichte aus einzelnen Ländern längst viel interessanter als die Aussprachen über irgendwelche EU-Rechtssetzungsvorhaben."
Der Autor arbeitet als
Korrespondent der "WAZ" in Brüssel.