Zuwanderungspolitik Europas Grenzen wurden immer undurchlässiger. Doch neue Konzepte sind notwendig, denn der Druck steigt - innen wie außen.
Das Foto ging durch alle Zeitungen: Als am 10. September 1964 Armando Rodrigues de Sa in Köln-Deutz aus dem Zug steigt, wird er von einer Kapelle erwartet. Journalisten, Politiker und Wirtschaftsführer umringen ihn. Der Portugiese ist der einmillionste "Gastarbeiter" in der Bundesrepublik Deutschland. Als Begrüßungsgeschenk erhält er ein Moped. Der Umgang mit Neuankömmlingen hat sich in den vergangenen vier Jahrzehnten in Deutschland wie in ganz Europa aber massiv verändert. Während das rasche Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit zunächst Arbeitskräftemangel bescherte, folgte im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts mit hoher Arbeitslosigkeit eine Kehrtwende. Erst in den vergangenen Jahren führte die drohende Überalterung der europäischen Gesellschaften zu einem neuen Nachdenken über zusätzliche Einwanderung.
Wie Deutschland, so suchten auch andere west -und nordeuropäische Staaten zunächst nach Arbeitskräften, um den Boom der 50er-Jahre zu bewältigen. Die Bundesrepublik schloss Anwerbeverträge mit Italien, Griechenland, Spanien, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Auch in der DDR wurden "Vertragsarbeitnehmer" angeworben, unter anderem aus Vietnam, Kuba, Mosambik, Polen und Angola. In Belgien waren es vor allem Italiener, die aufgenommen wurden und die noch 50 Jahre später die stärkste ausländische Minderheit bilden. In anderen Staaten wie Großbritannien und Frankreich bildeten vor allem die damaligen Kolonien ein Feld, auf dem Arbeitskräfte für das Mutterland rekrutiert werden konnten. Der Bruch kam in den 70er-Jahren. 1973 verhängte die Bundesrepublik einen Anwerbestopp. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts sollte es dabei bleiben.
Doch beim Entwurf einer gemeinsamen Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik tut sich die EU seit Jahren schwer. Einer der Gründe ist, dass über viele Jahre hinweg die Entscheidungen in diesem Bereich einstimmig zu treffen waren - für Teile gilt das immer noch. So wacht Deutschland eifersüchtig darüber, dass beispielsweise Quotenregelungen für Zuwanderer aus EU-Plänen herausgehalten werden. Der Zugang zum Arbeitsmarkt sei weiter Sache der nationalen Kompetenz, heißt es von deutschen Innenministern gleich welcher Couleur regelmäßig in Brüssel. Und weil Quotenregelungen Auswirkungen darauf hätten, müssten sie so lange außer Betracht bleiben, bis sich die Zuständigkeit für den Arbeitsmarkt auf EU-Ebene verlagere, so der derzeitige Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) noch Ende Januar in Brüssel. Hinzu kommt, dass die EU-Staaten über Jahre hinweg wenig Bereitschaft zeigten, einer Lastenteilung beim Umgang mit Asylbewerbern und Flüchtlingen zuzustimmen. In den 90er-Jahren gehörte die Bundesrepublik zu den Staaten mit den höchsten Asylbewerberzahlen. Der mühsam errungene deutsche Asylkompromiss von 1993 versuchte den Spagat, einerseits das Grundrecht auf Asyl beizubehalten, gleichzeitig aber die Verfahren zu beschleunigen und unbegründete Asylbewerber rasch wieder außer Landes zu bekommen.
Erst 1999 beim Gipfel von Tampere (Finnland) beschlossen die Staats- und Regierungschefs den Aufbau eines gemeinsamen Asylsystems, eine bessere gemeinsame Verwaltung der Zuwandererströme und eine engere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern. Stets wurde heftig über Detailfragen gerungen, manche Vorschläge der EU-Kommission blieben über Jahre in der Diskussion. Andere sind noch immer unverwirklicht.
Die Freizügigkeit innerhalb Europas nahm in den 80er- und 90er-Jahren zwar immer weiter zu. Für die EU-Bürger wurde es seither leichter, den Wohnsitz zu wechseln. Für Asylbewerber wurden die Regeln dagegen strenger. So vereinbarte die EU in dem so genannten Dubliner Übereinkommen bereits 1997, dass für EU-Staaten das Land zuständig ist, in dem zuerst ein Asylantrag gestellt wird. Ziel war es, das "Asyl-Shopping" zu unterbinden und dafür zu sorgen, dass in einem Staat abgelehnte Asylbewerber nicht in einem anderen Staat erneut einen Antrag stellen können. Mit der "Eurodac" genannten Fingerabdruck-Datenbank, die drei Jahre später ihre Tätigkeit aufnahm, wurde ein effektives Mittel geschaffen, um die Vereinbarung auch zu kontrollieren.
Unterschiedliche Konzepte in den verschiedenen EU-Staaten bringen die EU dabei immer wieder an den Rand kleinerer oder größerer Krisen. Heftigen Streit unter den EU-Ministern erlebte Brüssel etwa, als Spanien im Frühjahr 2005 Hunderttausenden illegalen Ausländern massenhaft Aufenthaltspapiere erteilte. Das Programm stieß auf scharfen Protest der Innen- und Ausländerminister Deutschlands und der Niederlande. Seit mehreren Jahren zeigt sich in der EU ein bemerkenswerter Widerspruch: Auf der einen Seite betonen Sozialpolitiker zunehmend, dass nur Einwanderung den demografischen Wandel in der alternden EU abfedern kann und warnen langfristig vor einem Mangel an Fachkräften. Auf der anderen Seite schotten die EU-Innenminister die Außengrenzen der EU immer stärker ab. Frankreichs Innenminister Nicolas Sarkozy foderte mehrfach, von der "ertragenen" Zuwanderung müsse der Weg zur "gewählten" Zuwanderung gegangen werden.
Hinzu kommt, dass vermehrt Probleme gescheiterter Integration sichtbar werden, sei es in Frankreich mit Vorstadt-Unruhen, sei es in den vermeintlich toleranten Niederlanden nach dem Mord am Filmemacher Theo van Gogh, sei es in Deutschland mit der Diskussion über Ehrenmorde oder Parallelkulturen. Das Regelwerk zur Steuerung von Migrantenströmen nach Europa wird im Schneckentempo immer dichter. Eine 16 Seiten lange Dokumentation der EU-Kommission zählt unter anderem Rückführungsabkommen mit Herkunftsstaaten auf, um "Illegale" aus diesen Staaten leichter abschieben zu können. Künftig sollen solche Abkommen Bestandteil jeglicher Entwicklungshilfe-Vereinbarung mit den 78 Partnerländern der EU in Afrika, der Karibik und der Pazifikregion sein. Verhandlungen über Rückübernahme-Abkommen laufen unter anderem auch mit mehreren nordafrikanischen Staaten, Pakistan und China.
Weitere Regelungen betreffen etwa die Familienzusammenführung oder den Auf- und Ausbau der gemeinsamen Grenzschutzagentur Frontex. Migration ist zur Chefsache geworden. Die EU-Staats- und Regierungschefs beschlossen bei ihrem Dezember-Gipfel, "rasch" eine gemeinsame Strategie zur Einwanderung schaffen zu wollen. Sarkozys Pläne für eine "gewählte" Einwanderung finden sich in ihrem Beschluss in anderen Worten wieder: Die Regierungschefs wollen Einwanderung fördern, "die auf bestimmte Arbeitsmarktbedürfnisse von EU-Mitgliedstaaten abgestimmt ist". Es sollten Mittel und Wege gesucht werden, wie Einwanderung auf Zeit erleichtert werden könne. Gleichzeitig aber wird die Mauer um Europa weiter aufgestockt. Die illegale Einwanderung soll nach dem Willen der EU-Staats- und Regierungschefs wesentlich stärker gemeinsam bekämpft werden als bisher, etwa durch ein schärferes Vorgehen gegen Schwarzarbeit oder gegen Menschenhandel und Schleuserkriminalität. Der häufig verbal zwar angemahnten "Bekämpfung der Fluchtursachen" sind in der Praxis aber bislang wenig konkrete Schritte gefolgt. Viel mehr als Hilfen beim Aufbau der Küstenwachen haben Herkunfts- und Transitstaaten bislang von der EU nicht erhalten.
Neu sind in der EU die Schlagworte "temporäre" oder "zirkuläre" Migration. Dahinter verbirgt sich das Konzept, Migranten auf Zeit in der EU zuzulassen. Doch ob und wie es dazu kommt, ist noch offen. Von Nichtregierungsorganisationen bis hin zu EU-Entwicklungskommissar Louis Michel wird gewarnt, ein "brain drain" sei die unausweichliche Folge. Hinter dem Schlagwort verbirgt sich die Sorge, qualifiziertere Bevölkerungsschichten, die eigentlich dringend in den Entwicklungsländern gebraucht werden, könnten durch Anreize dazu gebracht werden, lieber in die EU zu gehen. Sollte sich die EU darauf einlassen, Visa und Arbeitsgenehmigungen künftig nur auf Zeit auszustellen, wäre immerhin theoretisch gewährleistet, dass die Herkunftsländer später auch wieder von den Fähigkeiten ihrer Migranten profitieren. Bislang profitieren die Herkunftsländer nur vom Geld, nicht aber den Köpfen: 2005 sollen nach Weltbank-Schätzungen mehr als 140 Milliarden Euro von Auswanderern in die Heimatländer überwiesen worden sein - eine Summe, die mehr als doppelt so hoch ist wie die weltweite öffentliche Entwicklungshilfe. Kirchen und Nichtregierungsorganisationen sind überdies skeptisch, dass die "temporäre" oder "zirkuläre" Migration tatsächlich den gesuchten Königsweg darstellt. Sie haben Angst, dass die Fehler der 60er-Jahre wiederholt werden. Kirchen und Verbände fürchten, dass Migranten nur noch als Arbeitskräfte gesehen werden. Vielleicht aber erhält irgendwann einmal wieder ein einmillionster Zuwanderer ein Geschenk, so wie einst der Portugiese Rodrigues de Sa. Möglich aber auch, dass dann wieder ein Schriftsteller, wie einst Max Frisch, die Feststellung trifft "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen."
Der Autor ist Redakteur der
Nachrichtenagentur KNA in Brüssel.