GRUNDRECHTESCHUTZ
Bislang ist er kaum in den EU-Verträgen verankert. Mit der Verfassung sollte er weiter gestärkt werden.
Lieselotte Hauer aus Bad Dürkheim fühlte sich ungerecht behandelt: Weil das Land Rheinland-Pfalz ihr keine Genehmigung für den Anbau von Weinreben auf ihrem Grundstück erteilt hatte, klagte sie. Das Verwaltungsgericht Neustadt/Weinstraße hat den Fall in den Siebzigern dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in Luxemburg vorgelegt. Und zwar deshalb, weil die Ablehnung der Anbaugenehmigung auf eine EG-Verordnung gestützt war und das Gericht Zweifel hatte, ob diese Verordnung mit den Grundrechten auf Eigentum und Berufsfreiheit vereinbar ist. Der Fall führt vor Augen, dass es als Gegengewicht zur Rechtssetzungskompetenz der EU auch einen EU-Grundrechtsschutz geben muss. Dass die EU ein eigenes System des Grundrechtsschutzes und der gerichtlichen Grundrechtskontrolle hat und wie es funktioniert, wird in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen. Der präventive Grundrechtsschutz durch Bereitstellung von Expertise für die EU-Organe und die Mitgliedstaaten ist Aufgabe der neuen Europäischen Grundrechteagentur in Wien.
Der EuGH hat bereits Ende der 60er- Jahre entschieden, dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des EU-Rechts gehören, die der Gerichtshof zu wahren hat. Für die Entwicklung dieser EU-Grundrechte orientiert sich der Gerichtshof an den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und den menschenrechtlichen Verträgen, an die die EU-Mitgliedstaaten gebunden sind. Eine ganz herausragende Rolle spielt dabei die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), zunehmend aber auch der UN-Menschenrechtspakt, an dem sich der Gerichtshof orientiert. Das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und die Forderung nach gleichen Löhnen für Mann und Frau gehörten von Anfang an zu den Grundlagen -und zum Erfolgsrezept - der Europäischen Einigung.
Die Grundrechts-Rechtsprechung des EuGH ist eng verknüpft mit der Rechtsprechung des EuGH. Hier gilt: das Gemeinschaftsrecht hat Vorrang vor nationalem Recht. Um wirksam zu sein, muss das EU-Recht auch bei Grundrechtsfragen einheitlich ausgelegt und angewendet werden. Die Grundrechtskontrolle über das EU-Recht und das Handeln der Mitgliedstaaten bei der Ausführung dieses EU-Rechts hat der EuGH und nicht die nationalen Verfassungsgerichte. Die damit angedeutete Konkurrenz zwischen den nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH kulminierte 1974, als sich das Bundesverfassungsgericht im so genannten "Solange I-Beschluss" die Grundrechtskontrolle über Gemeinschaftsrecht ausdrücklich vorbehielt. Entspannung ist 1986 mit dem "Solange II-Beschluss" eingetreten, in dem das Bundesverfassungsgericht anerkannte, dass in der Union ein im Wesentlichen gleichwertiger Grundrechtsschutz besteht.
Seit dieser Zeit ist die Europäische Integration weiter fortgeschritten, EG-Rechtssetzungskompetenzen bestehen mittlerweile auch in grundrechtsintensiven Bereichen wie Einwanderung und Asyl. Zudem wird die Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten im Bereich des Polizei- und Strafrechts immer enger. EuGH-Urteile zu EU-Terroristenlisten, die Übermittlung von Fluggastdaten an die USA und zur Richtlinie über Familienzusammenführung sowie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl machen deutlich, dass es kaum mehr einen Bereich gibt, in dem das EU-Recht nicht wesentlichen Einfluss auf das nationale Recht ausübt. Das heißt, dass es immer mehr Konstellationen gibt, in denen Grundrechtseingriffe auf EU-Recht beruhen, auch wenn in fast allen Fällen ausführendes Handeln der Mitgliedstaaten dazwischen steht. Die Bedeutung des EU-Grundrechtschutzes wird für die EU-Bürger also immer größer. Die Europäisierung vieler grundrechtsintensiver Politikbereiche wirkt auf viele bedrohlich und löst euroskeptische Reaktionen aus. Die Einschränkung von Kompetenzen der EU und ein Rückzug auf das bewährte System der nationalen Grundrechtskontrolle werden bisweilen gefordert. Dagegen stehen eher europafreundliche,aber kritische Stimmen, die darauf drängen, der zunehmenden Vertiefung der Integration eine Stärkung der demokratischen Kontrolle und des Grundrechtschutzes gegenüber zu stellen.
Dass die Grundrechtsbindung der Europäischen Union erst seit 1993 und nur in einem Artikel im Vertrag über die EU verankert ist, wurde oft kritisiert. Der Europäische Rat hat deswegen 1999 beschlossen, die EU-Grundrechte durch eine Grundrechtscharta sichtbarer zu machen. Dort sollten die Grundrechte aufgelistet werden, die die Organe der EU und die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts bereits jetzt binden. Bekanntlich ist die EU-Grundrechtscharta noch nicht verbindlich, weil sie Teil des Verfassungsvertrages sein sollte, der vorläufig gescheitert ist. Trotzdem zeigt die Grundrechtscharta schon jetzt rechtlich relevante Wirkungen. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament haben sich selbst verpflichtet, die Rechte der Charta zu respektieren. In seiner jüngsten Rechtsprechung bezieht sich auch der EuGH auf die Grundrechtscharta. Es bleibt abzuwarten, wie die Mitgliedstaaten im Zuge der Diskussion über den Verfassungsvertrag mit der Grundrechtscharta umgehen werden.
Der Europäische Verfassungsvertrag ist aber noch in anderer Hinsicht für die Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes in der EU von Bedeutung. Zum einen sieht der derzeitige Vertragsentwurf eine Angleichung der bisher eingeschränkten Zuständigkeiten des EuGH in den Bereichen Einwanderung und Asyl sowie im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen vor. Kritiker gehen davon aus, dass es durch die derzeitigen Einschränkungen zu ernsthaften Rechtsschutzlücken kommen kann. So könnte es für einen Asylbewerber in bestimmten Fällen unmöglich sein, vor seiner Abschiebung vor dem EuGH zu klagen. Ein anderer wichtiger Punkt, der durch den Verfassungsvertrag ermöglicht werden soll, ist der Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Zwar ist die EMRK bereits jetzt eine der wichtige Rechtserkenntnisquellen für die Herleitung von EU-Grundrechten. Die EU kann aber zum jetzigen Zeitpunkt aus rechtlichen Gründen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) noch nicht beitreten. Das führt dazu, dass ein EU-Bürger vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg wegen Grundrechtsverletzungen gegen die EU nicht klagen kann. Er kann nur gegen die Handlungen einzelner EU-Mitgliedstaaten vor dem EGMR Beschwerde einlegen. Im Verfassungsvertrag ist der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK allerdings nun vorgesehen.
Durch diesen Beitritt soll auch die Vereinheitlichung der Rechtsprechung von EGMR und EuGH weiter gefördert werden. Die seit langem geforderte Stärkung der finanziellen und personellen Kapazitäten des EGMR wird also in Zukunft noch dringlicher werden. Die Stärkung des EGMR steht damit nicht - wie dies in den Debatten um die Grundrechtsagentur bisweilen den Anschein hatte - in Konkurrenz zu einem Grundrechtsschutz in der Europäischen Union.
Neben den nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH in Luxemburg ist der EGMR in Straßburg die Ebene der Europäischen Grundrechtskontrolle, die außerhalb der EU steht. Keine dieser Ebenen ist aus einem System des Grundrechtsschutzes in Europa wegzudenken. Diese drei Ebenen arbeiten einerseits zusammen, sie beeinflussen und kontrollieren sich aber auch gegenseitig. Im Zuge der Harmonisierung wird man jedoch an der einen oder anderen Stelle auf die Beibehaltung einzelner nationaler Eigenheiten verzichten müssen. Das muss nicht zugleich eine Absenkung des Niveaus des Grundrechtsschutzes bedeuten. Denn die Mitgliedstaaten und nicht die Brüsseler Beamten sind die Herren der EU-Verträge und können das System des Schutzes der Grundrechte in der EU gestalten. Die Diskussion um die EU-Verfassung wird Anlass geben, sich über den Grundrechtsschutz in Europa erneut Gedanken zu machen - und ihn zu stärken.