VERFASSUNGSDEBATTE
Ihr Scheitern hat Europa in eine Sinnkrise gestürzt. Wie sie bewältigt werden kann, weiß bislang keiner.
Am 1. November 2006 hätte die Europäische Verfassung in Kraft treten sollen. Genau zwei Jahre nach der feierlichen Unterzeichnung des 500-Seiten-Werks durch die damals 25 europäischen Regierungschefs in Rom wäre der ungeliebte Vertrag von Nizza - der als bislang letzte Änderung der EU-Verträge die Regelungen der Gemeinschaft bestimmt - im Mülleimer der Geschichte versenkt worden. Immerhin 18 Staaten haben mittlerweile die Entscheidung ihrer Regierungen durch Volksabstimmungen oder Parlamentsvoten bestätigt. Im Mai 2005 aber stimmten die Bürger Frankreichs und der Niederlande mit Nein - seither befindet sich das politische Europa in einer Schreckstarre. Je länger diese Phase andauert, desto größer werden die Widerstände gegen den ursprünglich von allen Regierungen gebilligten Text. Die Franzosen und Niederländer scheinen einen ansteckenden Virus in die Welt gesetzt zu haben. Würde man in den 18 Ländern heute erneut abstimmen, fiele das Ergebnis ganz sicher nicht mehr so positiv aus. In Tschechien und Polen, wo Umfragen noch vor zwei Jahren eine Mehrheit für die Reform voraussagten, liegt das Projekt auf Eis. Denn die Stimmung ist inzwischen umgeschlagen. Eine breite Mehrheit lehnt nach Umfragen die Verfassung ab - aber nur wenige kennen ihren Inhalt. Der im Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnete "Vertrag über eine Verfassung über Europa" besteht aus einer Präambel und vier Teilen: den Grundsätzen, der die Ziele der Union, ihre Zuständigkeiten und ihre politischen Organe regelt sowie die Charta der Grundrechte. Sie wurde von 1999 bis 2000 unter Leitung des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog erarbeitet und legt die Grundrechte innerhalb der Union fest. Im dritten Teil regelt der Vertrag Abläufe und Details des ersten Vertragsteils. Im vierten Teil sind die Übergangs- und Schlussbestimmungen des Vertragswerkes zusammengefaßt, in dem zum Beispiel Verfahren bei künftigen Vertragsänderungen festgelegt werden.
Kritik am Verfassungsvertrag war ursprünglich vor allem von
Großbritannien erwartet worden. Als kürzlich die
Londoner "Times" meldete, Gordon Brown und Tony Blair hätten
sich darauf verständigt, die Verfassung um jeden Preis zu
verhindern, löste das in Europa aber lediglich noch ein
gelangweiltes Achselzuck
en aus. Dabei hatten sich die Mitglieder des EU-Konvents, die ab
März 2002 im monatlichen Abstand in Brüssel tagten, mit
Blick nach London schon eine "Lex Britannica" eingebaut: Sobald
vier Fünftel der Mitgliedstaaten die EU-Verfassung
unterzeichnet hätten, sollte eine Konferenz der
Regierungschefs darüber beraten, wie es weitergehen soll. Die
Briten, so das Kalkül, sollten vom Kreis der Freunde der
EU-Verfassung an den Pranger und vor die Alternative gestellt
werden: Zustimmen oder aus der EU austreten. Ein solches Tribunal
brauchen Blair und Brown nun nicht mehr zu fürchten. Die
Gruppe der Neinsager ist inzwischen ziemlich groß - und sie
wächst weiter. Zwar trafen sich die "Freunde der
EU-Verfassung" vor einigen Wochen in Madrid, um das Projekt, das in
ihren 18 Ländern Zustimmung gefunden hatte, wiederzubeleben.
Doch nur die Initiatoren Spanien und Luxemburg schickten ihre
Minis-
ter, die anderen allenfalls Staatssekretäre. Die Öffentlichkeit nahm von dem Treffen kaum Notiz. Die Gefahr, dass sich die EU über der Verfassungskrise entzweien könnte, ist aber keineswegs gebannt, wenn das Lager der Nein-Sager wächst - im Gegenteil. In einer Anhörung, die vom Europaparlament zu dem Thema veranstaltet wurde, sagte der Fraktionsführer der Liberalen, Graham Watson, der sich bislang immer für die Verfassung eingesetzt hatte: "Der Augenblick ist gekommen, sich mit der bislang undenkbaren Frage zu befassen, ob alle Mitglieder im Rahmen der Europäischen Integration die gleiche Geschwindigkeit aufrecht erhalten können". Und die polnische EU-Kommissarin Danuta Hübner warnte ihre Landsleute, reiche Länder wie Deutschland könnten die Lust daran verlieren, Zahlmeister in einer großen, unbeweglichen Union zu sein. Sie würden sich dann eben einen kleinen Kreis von Gleichgesinnten suchen.
Der Laekener Gipfel liegt erst sechs Jahre zurück. Doch der Beschluss der damals noch 15 Regierungschefs, einen Konvent über demokratische Reformen für Europa nachdenken zu lassen, scheint einer anderen Zeitrechnung anzugehören. Vergessen ist, dass die Runde aus nationalen Parlamentariern, Europaabgeordneten, Kommissions- und Regierungsvertretern sich selbst zur verfassunggebenden Versammlung umdefinierte. Ursprünglich sollte der Konvent den Regierungschefs nur ein paar Fragen beantworten, zum Beispiel die, welche politische Ebene für welche politische Aufgabe am besten geeignet wäre. Der Konvent erhielt auch den klaren Arbeitsauftrag, die Rechtsinstrumente zu vereinfachen. Und die Institutionen sollten nach dem Willen der Regierungschefs auf den Prüfstand kommen. Erst im letzten Abschnitt wurde der Auftrag erteilt, der bis heute mit der Arbeit des Konvents in Verbindung gebracht wird und ihm den Namen Verfassungskonvent eintrug: Das Gremium sollte über eine mögliche europäische Verfassung nachdenken. Die EU-Verträge sollten für die Bürger lesbar werden und möglichst in einen dauerhaften Teil und ein praktisches Regelwerk aufgeteilt werden.
Die 105 Frauen und Männer, die am 28. Februar 2002 zu ihrer ersten Sitzung zusammenkamen, legten den ursprünglichen Arbeitsauftrag rasch zur Seite. Sie hielten sich nicht damit auf, den Fragenkatalog zu beantworten und alles übrige den Regierungen bei einem weiteren Gipfeltreffen zu überlassen. Stattdessen nutzten sie die Gunst der Stunde und begannen, an einer Verfassung für Europa zu arbeiten. Als der damalige Außenminister Joschka Fischer im Oktober 2002 für Peter Glotz den Sitz des deutschen Regierungsvertreters im Konvent übernahm, konnte er sich der euphorischen Stimmung nicht entziehen. Sein erster Tag als Mitglied des Konvents, so gestand er, bewege ihn als Privatmann und Verfasser der Humboldt-Rede tief: "Wenn Sie vor zwei Jahren hier in Brüssel herum gefragt hätten, ob wir in so kurzer Zeit so weit kommen, hätte Ihnen jeder gesagt: Sie träumen." Doch schon kurze Zeit später zeigte sich, dass der Konvent offenbar seine Kräfte überschätzt hatte. Seine Überlegungen gingen in eine Richtung, die die Macht der Mitgliedstaaten drastisch eingeschränkt hätte. Deshalb zogen sie die Notbremse - zunächst durch ihre eigenen Vertreter innerhalb des Konvents. Immer mehr Regierungen schickten hochkarätige Kabinettsmitglieder in das Gremium. Auf Joschka Fischer folgte zwei Monate später der französische Außenminister Dominique de Villepin. Viele Konventsmitglieder bedauerten, dass die Zeit des Träumens vorbei zu sein schien. Doch die hochkarätigen Neulinge, so glaubten viele, hätten auch ihr Gutes: Ein Text, der von Regierungsvertretern großer Mitgliedstaaten mit beschlossen wurde, könnte ja wohl nicht hinterher von eben diesen Ländern wieder zerstückelt werden? Die Geschichte hat das Gegenteil bewiesen.
Ob und in welcher Form die Verfassung verabschiedet wird, ist weiter fraglich. Denn nach den gescheiterten Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden verordnete der EU-Gipfel in Brüssel erstmal eine einjährige "Denkpause" - und der Ratifizierungsprozess verlängert sich. In der Zwischenzeit meldeten sich eine Reihe von Kritikern zu Wort wie Ex-Bundespräsident Roman Herzog, der der Union ein Demokratiedefizit vorhält. In der Diskussion um eine Europäische Verfassung sehen andere hingegen auch eine Chance: "Wenn die Integration ins Stocken geriet, bekamen wir immer einen neuen Vertrag an die Hand, der uns weiterführende Schritte ermöglichte," sagt Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker. Er plädiert dafür, möglichst wenige Änderungen an dem Text vorzunehmen und dann in Frankreich und den Niederlanden einen zweiten Anlauf zu wagen. In Luxemburg will er das Volk kein zweites Mal in dieser Sache an die Urnen rufen. "Wir mussten eine Volksbefragung durchstehen, drei Wochen nachdem die Franzosen nein gesagt hatten. Ich habe keine Lust, das noch mal zu machen. Wo es bereits ein Referendum gab, brauchen wir im zweiten Anlauf eine
parlamentarische Ratifizierung auf dem schnellen Dienstweg."
Das sieht der französische Präsidentschaftskandidat des rechten Flügels, Nicolas Sarkozy, genauso. Er will lediglich mit der Schere an die Verfassung herangehen, keinesfalls mit dem Stift. Am Ende soll ein "Mini-Vertrag" übrig bleiben, der das Zusammenspiel der Institutionen neu regelt und das Europa der 27 Mitgliedstaaten wieder handlungsfähig macht. Dieser Mini-Vertrag soll dem Volk nicht noch einmal vorgelegt, sondern vom Parlament abgesegnet werden - auf dem schnellen Dienstweg. Segolène Royal hingegen, die Präsidentschaftskandidatin der Sozialisten, will die Debatte über die Verfassung ganz neu eröffnen. Die Franzosen und die übrigen Europäer sollen noch einmal ganz von vorn über die Frage nachdenken, was sie von Europa erwarten. Danach sollen Stift und Schere gleichermaßen zum Einsatz kommen.
Das Ergebnis wird je nach Land per Referendum oder im Parlament abgesegnet - möglichst in allen Mitgliedsländern am gleichen Tag. Ein Nein soll nach Vorstellung der sozialistischen Kandidatin nicht folgenlos bleiben. Wer den neuen Vertrag ablehnt, soll von der neuen Integrationsstufe ausgeschlossen bleiben. Kanzlerin Merkel hat sich zu Beginn ihrer Ratspräsidentschaft gewünscht, der Verfassungsprozess möge nicht Gegenstand des französischen Wahlkampfs werden. Wenn sich die Kandidaten den Wählern gegenüber zu genau festlegten, schrumpften mögliche Spielräume für einen gemeinsamen Fahrplan aller 27 Regierungen gegen null.
Merkels Wunsch, dürfte sich wohl kaum erfüllen. Denn die Chancen, bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft einen wirklichen Ausweg aus der Verfassungskrise zu finden, sind damit offenbar weiter gesunken.
Die Autorin ist Korrespondentin für "Das Parlament" in Brüssel.