EU-Wirtschaftsraum
Für die einen Impulsgeber - für die anderen Bedrohung
Jacques Delors ist in Brüssel ein Mythos. Wenn altgediente Kommissionsbeamte von ihrem ehemaligen Chef sprechen, kommen sie leicht ins Schwärmen. Der Franzose genießt den Ruf, Europa wie kein anderer voran gebracht und die Mitgliedstaaten in ihre Schranken gewiesen zu haben. Auf die Integrationserfolge seiner 10-jährigen Amtszeit gründet sich die Machtfülle, über die der Apparat in Brüssel noch heute verfügt. Als der Finanzminister von Francois Mitterrand 1985 an die Spitze der Kommission trat, befand sich die europäische Idee - wieder einmal - in der Krise. In den 70er-Jahren war die europäische Wirtschaft in die "Stagflation" gerutscht: Das Wachstum ging zurück, die Inflation galoppierte. Schlüsselbranchen wie die Stahl- oder Textilindustrie wurden die ersten Opfer der Globalisierung. Auf den europäischen Agrarmärkten wuchsen die Getreideberge und Milchseen. Hohe Ölpreise zehrten an der Kaufkraft. Das böse Wort von der ,Eurosklerose' machte die Runde.
Unter Delors' tatkräftiger Führung verständigten sich die Mitgliedstaaten Anfang 1986 auf die Einheitliche Europäische Akte (EEA), die am 1. Juli 1987 in Kraft trat. Aus der EG, die vor allem eine Zollunion war, sollte ein Markt mit einheitlichen Wettbewerbsbedingungen werden. Ein Jahr zuvor hatte Delors einen detaillierten Plan für das Binnenmarktprojekt vorgelegt: Bis Ende 1992 sollten 297 Richtlinien und Verordnungen dafür sorgen, dass Güter und Dienstleistungen ungehindert in der gesamten EG gehandelt werden können. Die EEA schaffte dafür die institutionellen Voraussetzungen: die Befugnisse der Kommission und des Europäischen Parlaments wurden ausgeweitet, die Entscheidungsprozesse im Ministerrat beschleunigt. Für alle Entscheidungen, die den Binnenmarkt betreffen, genügt seit 1987 die qualifizierte Mehrheit mit Ausnahme der Steuern, der Freizügigkeit sowie der Rechte der Arbeitnehmer. Seit der EEA führt die EG eine Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts; es entsteht die europäische Regionalpolitik. Ziel der EG wird es, "die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen der Industrie zu stärken und ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu fördern", "die Umwelt zu erhalten, zu schützen und ihre Qualität zu verbessern, zum Schutz der menschlichen Gesundheit beizutragen und eine umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen zu gewährleisten".
Kern des Binnenmarktes sind die vier Grundfreiheiten: freier Personen-, freier Waren-, freier Dienstleis
tungs- und freier Kapitalverkehr. Bis 1993 wurden jedoch nur die
ersten beiden Freiheiten weitgehend verwirklicht. Die Personen- und
Zollkontrollen an den Binnengrenzen wurden beseitigt und die
meisten Hindernisse für den Warenverkehr auch. Unter dem
Druck, den Delors mit seinem Gesetzgebungsprogramm geschaffen
hatte, verständigten sich die Mitgliedstaaten auf eine
weitgehende Harmonisierung der Vorschriften, nach denen Waren in
den Verkehr gebracht werden dürfen. Wichtige Bereiche blieben
jedoch auch 1993 von der Harmonisierung ausgeschlossen,
insbesondere die Besteuerung. Der Vorschlag der Kommission, die
Mehrwertsteuer im Herkunftsland zu erheben, blieb im Ministerrat
hängen.
Trotzdem brachte der vorläufige Abschluss des
Binnenmarktprogramms 1993 große Vorteile für die
Unternehmen und ihre Kunden. Allein die Beseitigung der
Grenzkontrollen machte 70 Milliarden Zolldokumente entbehrlich, die
bis dahin an den Binnengrenzen der EG abgeliefert werden mussten.
Für die Unternehmen brachten 370 Millionen Menschen mit einer
Kaufkraft von umgerechnet 7 Billionen Euro mehr Absatz und
niedrigere Kosten, die Verbraucher kamen in den Genuss
günstigerer Preise und eines reichhaltigeren Angebots.
Allerdings hat der Binnenmarkt auch Schattenseiten: Die Unternehmen
sind einem höheren Wettbewerbsdruck ausgesetzt, dem nicht alle
Firmen standhalten. Viele können sich nur behaupten, indem sie
weniger produktive Mitarbeiter entlassen. Um von dem
größeren Markt zu profitieren, müssen die
Unternehmen ihre Waren weiter transportieren, was zu einer rasanten
Zunahme des Straßenverkehrs geführt hat. Die
Harmonisierung, also die Einführung europäischer
Mindeststandards, ist das wichtigste In
s-
trument des Binnenmarkts. Drei Viertel des Güterverkehrs in der EU wird heute auf der Grundlage harmonisierter Produktanforderungen abgewickelt. Für das verbleibende Viertel gilt der Grundsatz der "gegenseitigen Anerkennung". Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte diese Forderung bereits 1979 im Fall "Cassis de Dijon" aufgestellt: alles, was in einem Mitgliedsstaat vorschriftsmäßig hergestellt wird, darf auch in den anderen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft verkauft werden.Auch danach schlugen die Richter in Luxemburg immer wieder Schneisen in die Minenfelder des nationalen Protektionismus. 2001 mussten die Schweden akzeptieren, dass sie auch im Kampf gegen den Alkohol ausländische Anbieter von Wein und Schnaps nicht benachteiligen dürfen. Bereits 1999 wurden die dänischen Behörden gezwungen, Zweigniederlassungen aus anderen EU-Staaten einzutragen, die nicht die Voraussetzungen erfüllten, die an dänische Gesellschaften gestellt werden.
Der EuGH erweiterte den Binnenmarkt auch auf andere Bereiche, an die zuvor niemand gedacht hatte, wie zum Beispiel die Entscheidung, dass Gesundheitsdienste zum Binnenmarkt gehörten. Die Mitgliedstaaten haben diese Urteile des EuGH bislang nicht in ihre nationalen Gesetze übernommen. Ein deutscher Kassenpatient etwa kann zwar in ganz Europa zum Arzt gehen, hat aber nach den deutschen Vorschriften keinen Anspruch auf Kostenerstattung, wenn er eine Rechnung bekommt. Er könnte diesen Anspruch nur vor Gericht einklagen. In dieser Situation befinden sich oft auch andere Dienstleis-
tungsunternehmen der EU. Für sie gilt zwar
der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs. Sie müssen
sich dabei aber an die nationalen Vorschriften halten, die - anders
als im Warenverkehr - nicht harmonisiert sind. Das hat die
Kommission 2004 veranlasst, eine "Dienstleistungsrichtlinie"
vorzuschlagen. Dienstleistungen machen inzwischen 70 Prozent der
Wertschöpfung in Europa aus, der grenzüberschreitende
Dienstleistungsverkehr ist jedoch nur eine Randerscheinung
geblieben. Den Grund dafür sah der damalige
Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein in der Bürokratie: "Die
nationalen Vorschriften sind archaisch, übertrieben
aufwändig und sie verstoßen gegen das EU-Recht. Diese
Vorschriften müssen verschwinden." Dafür schlug er das
Herkunftslandprinzip vor. Jede Firma, die eine Dienstleistung
rechtmäßig in einem EU-Staat erbringt, sollte sie auch
in jedem anderen EU-Staat anbieten dürfen. Das
Herkunftslandprinzip sollte für Dienstleis-
tungen die gleiche Wirkung entfalten wie der analoge Grundsatz der
gegenseitigen Anerkennung im Warenverkehr. Nach dem Entwurf der
Dienstleistungsrichtlinie hätten die Mitgliedstaaten ihren
Kassenpatienten auch einen direkten Anspruch auf Kos-
tenerstattung einräumen müssen.
Der Anspruch auf Kostenerstattung wurde vom Europäischen Parlament ebenso gestrichen wie das Herkunftslandprinzip. Die Dienstleistungsrichtlinie, die Ende vergangenen Jahres verabschiedet wurde, hatte mit dem Entwurf Bolkesteins kaum etwas gemein. Manche befürchten sogar, dass sie den Dienstleistungsverkehr am Ende zusätzlich behindert. Dienstleister dürfen in Zukunft ohne Beschränkung in anderen EU-Staaten tätig werden. Die Behörden dürfen dieses Recht allerdings aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Gesundheit und des Umweltschutzes einschränken. Sie unterliegen dabei einem weitaus stärkeren Rechtfertigungszwang als in der Vergangenheit. Ausgenommen von der Dienstleis-
tungsrichtlinie sind aber alle sozialen Dienste und der Arbeitsmarkt. Eine Zäsur in der Geschichte des Binnenmarktes stellt die Dienstleistungsrichtlinie insofern dar, als die Überzeugung der Gründerväter, dass offene Märkte gut für Europa sind, erstmals von einer politischen Mehrheit in Frage gestellt wurde. Mit dem Kampf gegen das "Herkunftslandprinzip" kann man seit dem Verfassungsreferendum in Frankreich Wahlkämpfe gewinnen. Für den Ausbau des Binnenmarktes, der noch längst nicht abgeschlossen ist, haben sich die Voraussetzungen geändert. Die Kommission verfolgt das Ziel, die Hürden für den Personen-, Waren- Kapital- und Dienstleistungsverkehr Schritt für Schritt zu beseitigen, weiter. Fortschritte hat sie im Kapitalverkehr erzielt, wo ein groß angelegtes Harmonisierungsprogramm unternommen wurde. 2008 soll es auch einen europäischen Zahlungsverkehr geben. Der Binnenmarktkommissar Charlie
Mc Creevy hat auch die Öffnung der Dienstleistungsmärkte noch nicht aufgegeben. In den nächsten drei Jahren will er darauf achten, dass die Mitgliedstaaten die Dienstleistungsrichtlinie so umsetzen, dass die Unternehmen etwas davon haben. Dort, wo das Parlament der Kommission nicht gefolgt ist, will die Kommission dafür sorgen, dass die Rechtsprechung des EuGH stärker beachtet wird. McCreevys Beamte überlegen außerdem, wie der Binnemarkt modernisiert werden muss, um den Anforderungen der Globalisierung zu genügen. Nur die wenigsten Mitgliedstaaten setzten alle Vorschriften rechtzeitig und vollständig um. Mehr als 1.200 laufende Vertragsverletzungsverfahren zeigen, dass der Binnenmarkt weiter eine Baustelle ist. "Wir haben noch viel Spielraum, um den freien Warenverkehr weiter zu verbessern", sagt Indus-
triekommissar Günter Verheugen (SPD).
Tom Rolff ist Korrespondent des Hessischen Rundfunks in Brüssel.