BERLINER ERKLÄRUNG
Das gemeinsame Papier soll die Identität der Union definieren und einen Ausweg aus der Krise zeigen
Die Aufgabe scheint fast unlösbar zu sein, wollte man sie anspruchsvoll umsetzen: Wie aus einem Guss sollen die Sätze der "Berliner Erklärung" klingen, in der sich die 27 EU-Staaten, die Kommission und das Parlament zu gemeinsamen Werten und Zielen Europas bekennen wollen. 50 Jahre nach Unterzeichnung der Römischen Verträge, der Geburtsstunde der Europäischen Union, wollen sie in einer Art Selbstverpflichtung festhalten, wohin der Europäische Weg in Zukunft überhaupt gehen soll. "Wie 1957 steht die EU heute wieder an einer wichtigen Weggabelung, allerdings unter völlig veränderten Rahmenbedingungen", hatte Angela Merkel in einer Regierungserklärung Anfang März betont . Am 25. März will sie mit den anderen Staats- und Regierungschefs einen Text präsentieren, der Europas Identität beschreiben und damit auch einen Ausweg aus der gegenwärtigen Sinnkrise aufzeigen soll: die Berliner Erklärung.
Und das in klarer, verständlicher, bürgernaher Sprache anstatt des üblichen EU-Jargons, den oftmals nur Eingeweihte verstehen - das war der ausdrückliche Wunsch der deutschen Bundeskanzlerin, die als derzeitige Ratspräsidentin beim Text die Feder führt.
Erschwerend kommt noch hinzu, dass der Text eigentlich nur zwei Seiten umfassen soll, höchstens fünf. Vermutlich bis spät nachts wird Angela Merkel am Wochenende vor der informellen Ratssitzung in Berlin anlässlich des 50. Jahrestags der Römischen Verträge im Kanzlerbüro mit ihren Mitarbeitern über den letzten Formulierungen brüten, an Wörtern feilen und letzte Telefonate mit den europäischen Nachbarn führen.
Ringen um jedes Wort Es hat im Vorfeld unzählige
Diskussionen um die Formulierungen gegeben. Und natürlich auch
da
rüber, welche Werte darin aufgeführt werden müssen
und welche enthalten sein könnten. Die Palette ist groß:
Sie reicht von Freiheit, Vielfalt, Würde oder
gesellschaftlicherVerantwortung bis hin zu Rechtsstaatlichkeit,
Demokratie oder Solidarität. Was letztlich im Text stehen
wird, wird bis zuletzt ein gut gehütetes Geheimnis sein. Schon
bei der Frage etwa, ob man die gemeinsame Währung namentlich
erwähnen sollte und als Errungenschaft der Gemeinschaft
kennzeichnen dürfte, gab es keine Einigkeit unter den
Ländern - für die Briten war es unvorstellbar, damit ihr
Pfund zu schwächen. Besonders gerungen wird wohl bis zum
Schluss um das Wörtchen "Verfassungsvertrag". Ginge es nach
Angela Merkel, wäre es enthalten. Doch die Berliner
Erklärung ist kein "Merkel-Papier", nicht einmal eine deutsche
Willenserklärung. Der Titel verweist nur auf den Ort, an dem
die Fäden zusammenlaufen. Und so kann die Kanzlerin nur in
ihrer begleitenden Rede am 25. März noch einmal den
Staatenbund beschwören, dass die vorhandenen
Vertragsdokumente, wie vor allem der Nizza-Vertrag, keinesfalls
ausreichten, um für die Zukunft gerüstet zu sein.
Das gewählte Verfahren überraschte: Denn man hatte sich entschieden, so wenig wie möglich vorher festzulegen, um zu vermeiden, dass am Ende ein völlig aussagefreies Papier herauskäme - zermahlen von monatelangen Diskussionen in den nationalen Parlamenten, zwischen den Regierungen und den Prioritäten der alten und neuen Mitglieder. Denn je länger ein konkreter Text vorgelegen hätte, des
to mehr Kontroversen um jede Zeile lautete das Berliner Kalkül. Das wollte die deutsche Ratspräsidentschaft vermeiden, doch dafür zahlt sie einen hohen Preis. Denn damit ist die Erklärung vor allem zum Konsens der Regierungen geworden, ohne eine offizielle Beteiligung der Parlamente. Zwar unterschreibt bei der feierlichen Zeremonie am 25. März im Berliner Schlüterhof auch der Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, aber ein formales Mitspracherecht hatte er ebenso wenig wie die nationalen Volksvertreter, was vor allem die jeweils in der Opposition befindlichen Parteien trifft, die eigentlich nur zuschauen konnten. In Deutschland hatte die grüne Fraktion zwar noch im Bundestag einen Entschließungsantrag über die Beteiligung aller Fraktionen an der Berliner Erklärung gestellt, dieser Vorstoß wurde allerdings abgelehnt.
Gerade in den Regierungsfraktionen fand das Verfahren aber Zustimmung, und auch insgesamt lief die deutsche Opposition nicht gerade Sturm. Es wurde eher achselzuckend hingenommen, während der Entstehungszeit der Berliner Erklärung nur informiert worden zu sein. "Beim Verfassungsvertrag können sie das jedenfalls nicht noch einmal so machen", sagt der zuständige FDP-Abgeordnete Markus Löning. Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) fand es politisch falsch, "dass nicht einmal im Land der Ratspräsidentschaft das Parlament beteiligt wurde". Die Fraktion der Linken/PDS fühlt sich dadurch in ihrer Auffassung bestätigt, dass Europa "eine kaltherzige Veranstaltung für die Eliten und deren Akzeptanzmanager ist", wie es deren europapolitischer Sprecher Diether Dehm formulierte.
In der Debatte zur Berliner Erklärung am 14. März im Europäischen Parlament wurde die Kritik am Verfahren leidenschaftlicher, lauter und deutlicher geäußert - von vielen Ländern. "Es ist ein typischer Eurotag heute - alle klopfen sich auf die Schulter, wie viel geleis-
tet worden ist, und man vergisst die Leute da
draußen", klagte ein britischer Abgeordneter. Gemeint ist die
gewachsene Euro
-skepsis, die zwei verlorenen Referenden, der Rückschlag
für den Verfassungsvertrag. Ebenso deutlich wurde jedoch die
Auffassung im Parlament geäußert, dass man dringend eine
Festlegung brauche, wie es mit der Verfassung weitergeht. Die
Berliner Erklärung gilt vielen als Blaupause dafür.
Angela Merkel sieht es genauso. Sollten die 27 Mitglieder schon
daran scheitern, eine zwei- bis fünfseitige gemeinsame
Erklärung zu verfassen, wäre das ein fatales Signal
innerhalb Europas, aber vor allem auch in der internationalen
Gemeinschaft. Hinzu kommt eine Erfahrung in der politischen
Biografie der Kanzlerin: sie empfang, dass die Kontroverse um die
USA und den Irak-Krieg 2002/2003 das in Lager gespaltene Auftreten
Europas als politisch langfristig schädlich und entwickelte
daraus ein persönliches Motiv für ihre
Ratspräsidentschaft: Alles dafür zu tun, dass Europa sich
nicht in unterschiedliche Meinungsgruppen aufteilen lässt,
sondern Einigungsfähigkeit demonstriert. Deshalb ist es nicht
zu unterschätzen, wie sehr ihr der Erfolg des sehr konsensual
verlaufenen Energie- und Klimaschutzgipfels Anfang des Monats
geholfen hat, der kurz vor der Berliner Erklärung stattfand.
Wäre man dort ohne Ergebnis auseinander gegangen, wäre
auch die letzte und wichtigste Phase der Textfassung nicht so glatt
gelaufen. Im Kanzleramt war man sich bewusst, dass zu einer
erfolgreichen Berliner Erklärung immer auch das Vertrauen der
anderen Regierungschefs gehört.
Im Februar hatte es eine erste europäische Konsultationsrunde mit hochrangigen Beamten der Mitgliedstaaten zur Berliner Erklärung gegeben, nach deren Vorgaben die zwei Hauptautoren Uwe Corsepius, Leiter der Europa-Abteilung im Kanzleramt, und Reinhard Silberberg, Europa-Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Aufbau und Vorschläge des Papiers erarbeiteten. Die beiden sind zudem von der Kanzlerin als so genannte "Sherpas" mit dem EU-Verfassungsvertrag betraut. Von Anfang an war der Text dort als Chefsache behandelt worden. Das Kanzlerbüro selbst ist allerdings erst in der Schlussphase mit der eigentlichen Textfassung befasst.
Da Angela Merkel eine starke Neigung hat, ihre Ansprachen zu großen Teilen selbst zu schreiben, ist davon auszugehen, dass auch die Berliner Erklärung am Ende ihre Handschrift trägt. Immer wieder hat sie im Vorfeld betont, dass die Sprache verständlich sein müsse - bei den EU-Regierungschefs scheint inzwischen die Erkenntnis angekommen zu sein, dass die Skepsis der rund 450 Millionen Bürger Europas vor allem aus dem Gefühl gespeist ist, nicht mitzubekommen, was hinter verschlossenen Türen in Brüssel und auf den Ratstreffen ausgehandelt wird. Hier weiß die deutsche Ratspräsidentschaft die EU-Kommission hinter sich, deren Vizepräsidentin Margot Wallström bei der Debatte im Europäischen Parlament betonte, dass "ohne die Zustimmung der Menschen" gar nichts mehr vorangehen könne. Man könnte also sagen: So wenig plebiszitär oder basisdemokratisch das Verfahren zur Abfassung der Berliner Erklärung war, so sehr wollen die EU-Regierungschefs damit versuchen, die Menschen für das Projekt Europa und dessen Bedeutung zu gewinnen beziehungsweise zurückzugewinnen. In Berliner Regierungs- wie Oppositionskreisen hofft man, damit die Seele Europas im 21. Jahrhundert definieren zu können, die erstmals das erweiterte Europa als Einheit beschreibt und deren Grundkonsens erkennt und Grundwerte wie Rechtsstaatlichkeit, Stabilität und Menschenrechte festschreibt. Ein hoher, möglicherweise zu hoher Anspruch, darin ist man sich auch im Kanzleramt bewusst. Alle strittigen Fragen, wie etwa die Erweiterungs- und Integrationsfrage, wurden deshalb ausgeklammert. Das Bekenntnis zu den notwendigen Reformen, ohne den Verfassungsvertrag explizit zu erwähnen, war schwierig - aber einig sind sich alle, dass viel auf dem Spiel steht.
Die Autorin ist Politikjournalistin
und Publizistin in Berlin.