VON ANNETTE SACH
In feierlichen Geburtstagsansprachen bleiben Krisen, Niederlagen oder Rückschläge meist unerwähnt. Dabei sind gerade sie es, die uns in unserer Entwicklung im Rückblick am meisten voranbringen - in unserer persönlichen Biographie wie auch in der Politik. Am Anfang der Europäischen Union stand eine der größten Krisen seit Menschengedenken: der Zweite Weltkrieg. Er brachte Tod, Vernichtung und unbeschreibliches Leid über Millionen von Menschen. Den Gedanken daran hatten die Gründungsväter der Europäischen Union wohl stets im Hinterkopf, als sie den Europäischen Einigungsprozess - trotz zahlreicher Rückschläge - immer wieder nach vorne trieben.
Dieser Einsicht um die Kraft der Krise ist es zu verdanken, dass die Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge 1957 bereit waren, einen Paradigmenwechsel in Kopf und Herz vorzunehmen: nationale Souveränität aufzugeben, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen - Frieden und Wohlstand in einem vereinigten Europa. Was sich 50 Jahre später wie ein logischer Weg ausnimmt, ist in Wahrheit das Ergebnis unzähliger Kontroversen, Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen, aber auch einer oft unterschätzten Leistung: dem Willen zum Kompromiss.
Diese Einigkeit war nur möglich, weil sich Europa immer wieder auf gemeinsame Werte und Ziele verständigen konnte. Einige davon wie Freiheit oder Menschenrechte bildeten schon immer das Fundament der Europäischen Union, andere wie soziale Verantwortung oder der Schutz unserer Umwelt haben erst im Laufe der Zeit stärker an Bedeutung gewonnen. Anhand von vier Begriffen, die für die Union prägend sind - Freiheit, Vielfalt, Würde und Verantwortung - soll in dieser Ausgabe gezeigt werden, welche praktischen Politikfelder sich dahinter verbergen. Und sein es nun Binnenmarkt, Soziapolitik oder Energie, ihnen ist eines gemeinsam: Sie haben ihren Anfang in der Krise genommen. Und daraus entwickelten sich stets neue Handlungsmöglichkeiten und Ideen. Eine Leistung, auf die Europa zum 50. Geburtstag stolz sein darf, für einen kurzen Moment. Neue Krisen, Herausforderungen und Fragen wie die globale Erwärmung, die enormen Unterschiede zwischen Arm und Reich oder der Umgang mit der Globalisierung müssen von Europa schnell beantwortet werden.
In der "Berliner Erklärung", die am 25. März verabschiedet wird, werden die Staats- und Regierungschefs von jetzt 27 EU-Staaten ein Bekenntnis zu den Grundwerten und Prinzipien abgeben. Es soll zeigen, wohin Europa möchte. Denn nur wer seine eigene Identität kennt, kann daraus Handlungsoptionen ableiten. Der ins Stocken geratene Verfassungsvertrag hatte dies eigentlich schon früher leisten sollen. Doch viele Bürger in Europa hatten diesem "Vertrag mit dem Bürger"- aus den verschiedensten Gründen - die rote Karte gezeigt. Ein Ereignis, das Europa in den letzten Monaten in eine Krise stürzte, die sich auf den zweiten Blick aber wieder einmal als große Chance herausstellen dürfte.