50 JAHRE RÖMISCHE VERTRÄGE
Europa feiert Geburtstag und sucht nach neuer Identität
Am Anfang stand eine Einsicht: Nie wieder sollte Europa sich in Kriegen zerfleischen, nie wieder nationalistischer Verhetzung Raum gewähren, nie wieder seine Kräfte in gegenseitiger Abschottung verzetteln. Nach zwei Weltkriegen war die Zeit reif für einen Neuanfang. Doch nur in einem Teil Europas konnten in den Jahren nach 1945 der Einsicht auch Taten folgen: dort, wo die Völker die Möglichkeit hatten, in freier Selbstbestimmung über ihr Schicksal zu entscheiden.
Es war ein Ausdruck von Realismus, mit der Bündelung der Kräfte in einem Bereich zu beginnen, der sich in der Vergangenheit als besonders konfliktträchtig erwiesen hatte: in dem für die Rüstung so wichtigen Montansektor. Die 1952 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), kurz Montanunion genannt, war die Keimzelle der fünf Jahre später geschaffenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), aus der 1967 die Europäische Gemeinschaft (EG) und 1993 die Europäische Union (EU) wurde. Die Projekte einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und, in enger Verbindung mit ihr, einer Europäischen Politischen Gemeinschaft, blieben dagegen zunächst einmal auf der Strecke: Als die französische Nationalversammlung am 30. August 1954 dem EVG-Vertrag durch Übergang zur Tagesordnung eine Beerdigung dritter Klasse bereitete, war klar, daß die politische und militärische Einigung Westeuropas sehr viel mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als die Optimisten geglaubt hatten.
Die wirtschaftliche Einigung war leichter durchzusetzen, weil dieses Vorhaben in den sechs Mitgliedstaaten der Montanunion -Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg - allen politischen Lagern, abgesehen von der äußersten Rechten und der äußersten Linken, einleuchtete. Das hatte vor allem damit zu tun, daß die nationale Souveränität durch die Römischen Verträge, die Rechtsgrundlage der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom), fürs erste sehr viel weniger eingeschränkt wurde, als das bei einer Zusammenlegung der Streitkräfte der Fall gewesen wäre. Tatsächlich war die Ratifizierung des Vertragswerks nirgendwo und nirgendwann ernsthaft in Gefahr, so daß es am 1. Januar 1958 in Kraft treten konnte.
Ein halbes Jahrhundert später fällt es trotz vieler Krisen und Rückschläge schwer, beim Rückblick auf die Geschichte der europäischen Gemeinschaft nicht von einer "Erfolgsgeschichte" oder einem "Wunder" zu sprechen. Aus der EWG der Sechs ist die EU der 27 geworden, aus einem wirtschaftlichen Zweckverband ein Staatenverbund, der sich, jedenfalls auf dem Papier, zum Ziel einer Politischen Union bekennt, aus einem rein westeuropäischen Club eine fast das ganze Europa westlich der Grenzen Weißrußlands und der Ukraine umfassende Gemeinschaft. Die Ost-West-Spaltung des Kalten Krieges ist überwunden. Die EU wird überall in der Welt als wirtschaftliche Großmacht und vielfach als ein Vorbild wahrgenommen, dem man nacheifern möchte, um ein ähnlich hohes Maß an wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt zu erreichen.
Zur Selbstzufriedenheit haben die Europäer aber keinen Anlaß. Entgegen den Erwartungen vor allem der Deutschen ist die Vertiefung der Europäischen Union hinter der Erweiterung stark zurückgeblieben. Der im Dezember 2000 vereinbarte Vertrag von Nizza reicht nicht aus, die Folgen des Beitritts von zehn Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, dazu Maltas und Zyperns, zu bewältigen, geschweige denn weitere Bewerber um eine Vollmitgliedschaft aufzunehmen. Der Europäische Verfassungsvertrag, der die Union funktionstüchtig erhalten und wieder erweiterungsfähig machen sollte, wird so, wie er ist, nicht in Kraft treten. Das liegt nicht nur am Scheitern der Referenden bei zwei Altmitgliedern, Frankreich und den Niederlanden, im Frühjahr 2005. Es liegt auch an den starken Widerständen gegen den Vertrag bei zumindest drei weiteren Mitgliedern: Großbritannien, Polen und Tschechien. Der Begriff "Verfassung" hat einerseits Hoffnungen und andererseits Befürchtungen geweckt, die beide nicht gerechtfertigt waren. Als der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer im Mai 2000 in seiner inzwischen legendären Rede in der Humboldt-Universität zu Berlin eine Verfassung für Europa ins Spiel brachte, ging er noch davon aus, dass sich die EU (oder doch wenigstens eine Avantgarde ihrer Mitglieder) zuvor entschließen würde, den revolutionären Schritt vom bestehenden Staatenverbund zu einer echten Föderation mit einem parlamentarischen System zu tun. Doch dazu waren die meisten Mitgliedstaaten zu keiner Zeit bereit - die neuen noch weniger als die alten. Selbst wenn der Europäische Verfassungsvertrag geltendes Recht werden würde, blieben die Mitgliedstaaten die Herren der Verträge. Der Begriff "Verfassung" war ein pathetischer Fehlgriff, der die überfällige Reform der Institutionen und Entscheidungsprozesse nicht gefördert, sondern erschwert hat.
Wer die Substanz des Verfassungsvertrages retten will, tut gut daran, auf den unangemessenen Begriff "Verfassung" zu verzichten und, bescheidener und realistischer, von einem "Grundlagenvertrag" oder "Grundvertrag" sprechen. Zur Substanz gehören das Prinzip der doppelten Mehrheit, also einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedstaaten und der Unionsbürgerschaft, eine Stimmenverteilung im Europäischen Rat, die den unterschiedlichen nationalen Bevölkerungszahlen mehr als bisher Rechnung trägt, und eine Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments. Wenn Europa in wichtigen Fragen mit einer Stimme sprechen will, muß es Mehrheitsentscheidungen erleichtern. Die Grundrechecharta kann auch getrennt von den institutionellen Teilen des Verfassungsvertrages in Kraft gesetzt werden. Auf die Handlungsfähigkeit der EU kommt es an und nicht auf Begriffe, die das vernünftige Motto "Mehr sein als scheinen" ins Gegenteil verkehren. Das gilt auch für den Titel eines "Europäischen Außenministers".
Die Vertrauenskrise, in die das europäische Projekt geraten ist, hat ihren tieferen Grund darin, daß wichtige Entscheidungen, beispielsweise die über die Verleihung des Kandidatenstatus an ein Bewerberland oder die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, hinter verschlossenen Türen und im Stil einer Politik der vollendeten Tatsachen getroffen wurden - ohne daß es darüber zuvor Diskussionen in den nationalen Parlamenten oder in der Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten gegeben hätte. Viel wäre gewonnen, wenn dieser Missstand beseitigt würde. Nachdem die Referenden in Frankreich und den Niederlanden wieder einmal gezeigt haben, wie missbrauchsanfällig die plebiszitäre Demokratie ist, ist es höchste Zeit, der repräsentativen Demokratie eine neue Chance zu geben: Die nationalen Parlamente müssen in Sachen Europa mehr als bisher, und zwar rechtzeitig, gehört werden.
Die Vertiefung der Union verlangt aber mehr als eine Reform von Institutionen und Entscheidungsprozessen. Europa hat nur dann eine Zukunft, wenn Politik und Zivilgesellschaft sich verstärkt um ein europäisches "Wir-Gefühl", um ein Bewusstsein von Zusammengehörigkeit und wechselseitiger Solidarität, bemühen. Dazu gehört auch Klarheit über das, was gemeint ist, wenn die EU sich als "Wertegemeinschaft" bezeichnet. Es sind die westlichen Werte, auf die sich die Europäische Union beruft, und es ist die politische Kultur der westlichen Demokratie, zu der sie sich bekennt. An diesem Maßstab müssen sich alle Staaten messen lassen, die der EU angehören - und ebenso die, die ihr beitreten wollen.
Der Autor war bis vor kurzem Professor für Neueste Geschichte an der HU, Berlin.