Zeitgeschichte
Die Vogel-Brüder präsentieren ihre Erfolgsstory der Bundesrepublik
In der Nachkriegszeit wird der junge Bernhard samstagabends von Hans-Jochen "abgefragt", und wenn er "einigermaßen fehlerfrei und vollständig berichten konnte, was sich in der zurückliegenden Woche politisch ereignet hatte", bekommt er vom älteren Bruder, später als "Oberlehrer" von einer gewissen Berühmtheit, 50 Pfennig Taschengeld: "Machte ich Fehler, gab es weniger". 1959 nimmt Bernhard mit Wissen des Ministeriums für Gesamtdeutsche Fragen unter dem Decknamen "Peter Pinto" an den kommunistischen Weltjugendfestspielen in Wien teil. Einmal tauchen Verfassungsschützer bei ihm auf, weil er in Ostberlin kommunistische Filme erworben hat, die er "regelmäßig in Westdeutschland" zeigt. Als Mainzer Kultusminister wird er während der APO-Unruhen in einer Uni mit einem Pantoffel beworfen, den er kurzerhand ins Publikum zurückschleudert. In den 50er-Jahren breitet Mitstudent Helmut Kohl in einem Uni-Seminar stets ein "Regiment von Pfeifen vor sich aus": liberale Zeiten, unerbittliche Kreuzzüge gegen Raucher sind noch unbekannt.
Anekdoten lockern ein Geschichtsbuch auf. Und ein solches haben Bernhard und Hans-Jochen Vogel, Christdemokrat der eine, Sozialdemokrat der andere, publiziert: über den Werdegang der Bundesrepublik - für sie trotz aller Probleme eine "beispiellose Erfolgsgeschichte". Zu erzählen hat das in höchste Ämter gelangte Brüderpaar einiges: CDU-Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz und nach der Wiedervereinigung in Thüringen der eine, der andere Rathauschef in München und Berlin, dazwischen Minister für Städtebau unter Willy Brandt und für Justiz unter Helmut Schmidt, später Kanzlerkandidat, Oppositionsführer und SPD-Vorsitzender.
Es ist eine reizvolle Idee, das ungleiche Duo in einem Buch zu vereinen. Die dieser Konstellation innewohnende Spannung kommt freilich kaum zum Ausdruck. Die Autoren, ganz Elder Statesmen und über den Dingen stehend, präsentieren eine weithin abgeklärte Rückschau, der es an politischem Pfeffer mangelt. Offenbar wollen sich die beiden politisch nicht wehtun - obwohl sie in gegnerischen Lagern als Kontrahenten gefochten haben. Doch von den aufregenden Kämpfen zurückliegender Jahrzehnte ist nicht viel zu spüren.
Die Texte, nur wenige Kapitel haben die Brüder gemeinsam verfasst, lassen wesentliche Stationen der Bundesrepublik Revue passieren: etwa Währungsreform und Verfassungsgebung, Adenauer-Ära, Wirtschaftsaufschwung, Mauerbau, die erste Große Koalition, APO-Zoff, Brandts, Schmidts, Kohls und Schröders Kanzlerschaft, Wiedervereinigung, Euro-Einführung. Wer diese Epochen miterlebt hat, wird in dem Buch wenig Neues finden. Jüngere Leser können indes in ein aufschlussreich, aus persönlichem Blickwinkel geschildertes Stück Zeitgeschichte eintauchen. Wer weiß beispielsweise, dass die Union 1966 aus Ärger über die FDP mit der Großen Koalition die dann zerstobene Hoffnung auf ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Muter verbindet?
Unter die Haut gehen als dichte Dramatik die Erinnerungen an die Entführung Hanns-Martin Schleyers durch die RAF, das Kidnapping der "Landshut" und den Selbstmord inhaftierter Terroristen im Herbst 1977: Der eine sitzt in Bonn als Justizminister im Krisenstab, der andere ist in Stuttgart im Freundeskreis der Familie Schleyer präsent, die unbedingt das Leben des Opfers retten will. Die beiden Brüder sehen sich in einem düsteren Dilemma: Schleyer ist nicht zu retten, der Rechtsstaat kann nicht nachgeben. Hans-Jochen Vogel spricht von den "verantwortungsschwersten" Wochen in seinem Leben.
Die Klingen kreuzen die Verfasser nur selten und indirekt. So insistiert Bernhard Vogel, dass die Union "als einzige Partei über Jahrzehnte hinweg ohne Wenn und Aber an der Wiedervereinigung" festgehalten habe. Oskar Lafontaine und Egon Bahr hätten hingegen von der Einheit nichts mehr wissen wollen. Der Bruder wiederum wehrt sich gegen den Vorwurf, die SPD habe sich vor 1989 endgültig mit der Zweistaatlichkeit abgefunden. Vielmehr habe die von Brandt eingeleitete und von Schmidt wie Kohl fortgeführte Ostpolitik wesentlich zum Mauerfall beigetragen. Der damalige SPD-Fraktionschef pocht darauf, im November 1989 schon vor Kohls Zehn-Punkte-Erklärung zu einer Föderation mit der DDR Gleiches gefordert zu haben, was "bis heute weithin unbekannt geblieben" sei.
So manche nervenaufreibenden Konflikte werden indes umschifft. Eher beiläufig erwähnt Bernhard Vogel seinen Sturz 1988 durch die CDU in Rheinland-Pfalz, Kohls Spendenaffäre oder den Aufstand Lothar Späths und Heiner Geißlers gegen Kohl. Zurückhaltend behandelt auch der Co-Autor Zerwürfnisse auf SPD-Seite, etwa Schmidts Kampf in Sachen Raketenstationierung und Atomkraft mit Lafontaine und Erhard Eppler. Die Abwahl Rudolf Scharpings durch Lafontaine und Schröder 1995 findet im Buch am Rande statt. Selbst über Lafontaine urteilt Hans-Jochen Vogel relativ milde: Der habe 1999 den SPD-Vorsitz "weggeworfen wie einen schmutzigen Anzug".
Die Autoren sind sichtlich bemüht, die "Erfolgsgeschichte" der Bundesrepublik auf einen verbindenden Grundkonsens jenseits politischer Gegensätze zurückzuführen. Verkörpern die Vogel-Brüder dieses Prinzip nicht bestens? Soll dieses Buch auch als Darlegung einer persönlichen Erfolgsstory verstanden werden? Abgeklärte Elder Statesmen formulieren dies natürlich nicht offen.
Deutschland aus der Vogel-Perspektive.
Herder Verlag, Freiburg 2007; 319 S.,19,90 ¤