NAturwunder
Felsen, Nehrungen, Haffe und Moränen
Wilhelm von Humboldt hatte ein Auge für die Schönheit jener eigenartigen Landschaft, die sich wie ein Säbel in die Ostsee bohrt. "Die Kurische Nehrung", schrieb er 1809, "ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebenso als Spanien und Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen sollte."
Noch heute kennt fast jedes Kind in Litauen das Zitat des preußischen Staatsmanns und Mitbegründer der Berliner Universität. Es taucht in jeder Touristenbroschüre, jedem Reiseführer, jedem Vortrag über die Halbinsel auf. Im Westen von der Ostsee, im Osten vom Kurischen Haff umspült, von alten Kiefern bewachsen und von urigen Fischerkaten und Holzhäuschen bebaut, übt die Kurische Nehrung in der Tat einen eigentümlichen Reiz auf Bewohner und Besucher aus. An der Grenze zur russischen Exklave Kaliningrad, welche die knapp 100 Kilometer lange Landzunge teilt, hat sich der Sand zu mehr als 60 Meter hohen Dünen aufgetürmt. Eine wüstenähnliche Landschaft im Herzen Europas, seit sieben Jahren von der Unesco unter Schutz gestellt.
Doch so besonders die Kurische Nehrung sein mag, sie ist kein Einzelfall. Nehrungen sind geradezu typisch für die Ostsee. Sei es die Frische Nehrung, die sich von Polen im Westen bis nach Kaliningrad im Osten erstreckt, die in die Danziger Bucht ragende Halbinsel Hela oder kleinere Halbinseln wie der Darß oder der Priwall bei Travemünde. Ihnen allen ist gemein, dass sie von Wind, Meer und Sand geschaffen wurden und sich noch heute verändern. "Vor etwa 7.000 bis 8.000 Jahren", erklärt Klaus Schwarzer vom Institut für Geowissenschaften der Universität Kiel, "begannen sich Ausgleichsküsten wie die Kurische Nehrung herauszubilden."
Moränenhügel aus der letzten Eiszeit, die wie Inseln aus dem Meer ragten, wurden vom Wasser abgetragen. Sie lieferten das Material, das durch Brandung und Küstenströmungen verdriftet wurde. Wo tief ins Land schneidende Buchten den Strom unterbrachen, lagerte sich der Sand ab, sodass sich Landzungen formten, die die Buchten nahezu abschnürten. Es entstanden Ausgleichsküsten, bei denen die Nehrungen das offene Meer von Brackgewässern wie Lagunen und Haffen trennt.
Auch davon finden sich im Ostseeraum einige, wenngleich sie - je nach Größe und Eigenheiten - verschiedene Namen tragen. "Die für Mecklenburg-Vorpommern typischen Bodden, die wie die Kurische Nehrung nur eine enge Verbindung zur offenen Ostsee haben, sind auf ähnliche Art entstanden", erklärt Schwarzer.
Die Litauer greifen indes auf eine romantischere Erklärung zurück. Die Riesin Neringa, so erzählt es die Legende, habe die Fischer vor dem Meeresgott schützen wollen, der immer wieder Stürme und Wellen über die Küste einbrechen ließ. In ihrer Schürze schleppte sie deshalb riesige Mengen Sand an, die sie zu einem Schutzwall aufschüttete - der Kurischen Nehrung.
Auch ein anderes Naturphänomen wird gerne Riesen zugeschrieben: die Findlinge. Sei es in Deutschland, Dänemark, Finnland oder Estland, überall ranken sich Geschichten um Giganten, die riesige Steine im Schuh hatten oder sich einen Wurfwettstreit lieferten. Die Wahrheit hört sich nüchterner an. "Überall dort, wo die Gletscher der letzten Eiszeit die Erde bedeckten", sagt Schwarzer, "hat das zurückweichende Eis seine Spuren hinterlassen." So bildeten sich Moränenlandschaften, für die Findlinge so typisch sind, riesige Gesteinsbrocken aus Skandinavien, die vom Eis mitgezogen und dabei geschliffen, zerkleinert und schließlich irgendwo wieder abgeladen wurden. "Je weiter man nach Nordosten kommt", so der Geologe, "desto größer sind die Findlinge, weil sie einen kürzeren Weg zurückgelegt haben und somit weniger abgeschliffen wurden."
So wie die Eiszeiten vor etwa 20.000 Jahren Findlinge quer über den Ostseeraum verteilten, formten sie auch anderes altes Gestein, das zunächst tief unter der Erde lagerte. "Durch den Druck des Eises wurden Kreideschollen hochgehebelt und zu bizarren Formen aufgeschuppt", sagt Schwarzer. Die wohl berühmtesten Beispiele, etwa der 118 Meter hohe, zerklüftete Kreidefelsen Königsstuhl, ragen auf der Insel Rügen in den Himmel. Ähnlich wie die Kurische Nehrung haben auch sie einen nachhaltigen Eindruck auf Wilhelm von Humboldt hinterlassen. Er schrieb: "Es ist nicht möglich, einen einfacheren und erhabeneren Anblick zu finden."