NULLA SALUS NISI IN FRACTIONE
Nichts geht außerhalb der Fraktionen
Über die fünf Bundestagsfraktionen läßt sich
trefflich streiten; innerhalb wie außerhalb des Parlaments.
Daß Staatsrechtler die Machtfülle der "Parteien im
Parlament" in dicken Lehrbüchern kritisieren und von einer
"Kollektivierung des Abgeordneten" warnen, damit haben sich die
Fraktionschefs längst abgefunden. Und wenn es um die
Rednerliste geht oder die Besetzung der Ausschüsse, dann
gerät so mancher Parlamentarier in Zorn, weil er sich von der
Fraktionsführung ungerecht behandelt fühlt. "Nulla salus
nisi in fractione" (Nichts geht außerhalb der Fraktionen),
klagte schon 1907 der Reichstagsabgeordnete Hellmuth von
Gerlach. Und in der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 wurden
fraktionslose Abgeordnete gar als "Wilde", "Stehgreifritter" oder
"Einzelgänger" beschimpft.
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Rund 150 Jahre später ist anerkannt, daß ein
geordneter parlamentarischer Betrieb ohne die Fraktionen nicht
denkbar ist. Aus dem Honoratiorenparlament der Vergangenheit ist
das Arbeitsparlament der Gegenwart geworden. Und der Terminkalender
der Fraktionschefs ist dicht gedrängt in den Plenarwochen;
ungefähr 25 mal im Jahr, Sondersitzungen ausgenommen. Wolfgang
Gerhardt, Parteivorsitzender der FDP und seit der Bundestagswahl
auch noch Chef der 43köpfigen Fraktion, blättert in
seinem Notizbuch und zeigt auf Montag, den 19. April. Statt der
üblichen Sitzungsroutine die Einweihung eines neuen
Parlamentsgebäudes; das kommt schließlich nicht jede
Woche vor. Die Atmosphäre im Reichstag sei beeindruckend
gewesen, da rückte das alles beherrschende Thema "Kosovo" in
den Hintergrund. Allerdings nur für wenige Stunden, denn die
bedrückende Lage auf dem Balkan läßt keinen
Abgeordneten kalt. So war der Tagesordnungspunkt eins in allen
Fraktionen der Gleiche. Damit aber der Streit über die
630MarkJobs nicht zur Nebensache verkümmert, hat
Gerhardt zu Wochenbeginn für die F.D.P. eine Aktuelle Stunde
beantragt; am Mittwoch diskutierte der Bundestag über die
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und die
Scheinselbständigkeit. Nach langen Regierungsjahren hat
Gerhardt die F.D.P.Fraktion auf die harten
Oppositionsbänke eingestimmt. "Der Rollenwechsel war nicht
einfach, ist jetzt aber geschafft."
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Den umgekehrten Weg von der Oppositions zur
Regierungsfraktion haben Bündnis 90/Die Grünen hinter
sich. "Meine größte Herausforderung ist jetzt die
Sicherung der Kanzlermehrheit", beschreibt Kristin Heyne ihre
Arbeit als Erste Parlamentarische Geschäftsführerin.
Für den Fall einer drohenden Abstimmungsniederlage der
Koalition hält sie ein Handy griffbereit, um die 47
GrünenAbgeordneten ins Plenum zu zitieren. Auch bei
Bündnis 90/Die Grünen ging der Regierungswechsel nicht
ohne "leichte Umstellungsprobleme" ab. "Jetzt haben wir drei
Minister und müssen darauf achten, daß die Fraktion
ausreichend zu Wort kommt", schildert Heyne die manchmal
komplizierte Verteilung der Redezeit. Im Wochenrückblick hat
für Bündnis 90/Die Grünen – neben dem
KosovoKonflikt – die Haushaltsbereinigungssitzung eine
besondere Rolle gespielt. Hinter dem Wortungetüm verbergen
sich endlose und im Ergebnis meist endgültige Beratungen
über noch strittige Haushaltstitel. "Da konnten wir erstmals
als Regierungsfraktion gestalten", sagt Heyne zufrieden.
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Etwas anders fällt die Sicht der PDS aus, der mit 36
Mitgliedern kleinsten Oppositionsfraktion. Die stellvertretende
Vorsitzende Christa Luft hat Zuschüsse für die parteinahe
"Rosa Luxemburg Stiftung" durchgesetzt, wenn auch nicht in der
gewünschten Höhe. "Neben dem KosovoKrieg war
deshalb die Bereinigungssitzung für uns sehr wichtig", sagt
Luft während einer Beratungspause am Donnerstag nachmittag.
Der Anspruch auf Zuschüsse wird von der politischen Konkurrenz
nicht mehr in Frage gestellt, seit die PDS bei der Bundestagswahl
erstmals die FünfProzentHürde
übersprungen hat und damit Fraktionsstatus hat.Wie die F.D.P.
hat sich auch die PDS mit einer Aktuellen Stunde im Bundestag
Gehör verschafft. Das Thema "Schwarzarbeit und
außertarifliche Beschäftigung auf den Baustellen des
Bundes in Berlin" hat die Berlinerin Luft in der Fraktion
durchgesetzt.
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Diese "Aktuelle Stunde" hat nicht nur die PDS beschäftigt;
auch die anderen Fraktionen mußten sich vorbereiten und Redner
bestimmen. In der CDU/CSUFraktion kümmern sich die
zuständigen Arbeitsgruppen um die Rednereinteilung,
erklärt der Parlamentarische Geschäftsführer Peter
Ramsauer die interne Organisation. Alle Fraktionen setzen zu Beginn
der Wahlperiode Arbeitsgruppen ein, die die Beschlüsse der
Gesamtfraktion vorbereiten. Die Arbeitsgruppen oder Arbeitskreise
orientieren sich thematisch an den Fachausschüssen des
Bundestages und tagen meist am Dienstag. Nicht nur in Bonn, sondern
auch außerhalb der Bundesstadt wie kürzlich in Erfurt. So
nutze die "Arbeitsgruppe Tourismus" der
CDU/CSUBundestagsfraktion den Parteitag in der
thüringischen Landeshauptstadt zu einer Reise durch den
Freistaat, um sich über den Fremdenverkehr in den neuen
Länder zu informieren.Häufig muß im Büro
Ramsauer auf Zuruf entschieden werden, denn Aktualität
schlägt Planung. Bis zur Wochenmitte war unsicher, ob der
Bundestag über die Entsendung von Fernmeldeeinheiten nach
Albanien abstimmen muß. Dann werden Eventualpläne
aufgestellt und die Anwesenheitslisten der Abgeordneten
durchforstet. Selbstverständlich, daß auch die CDU/CSU
"Aktuelle Stunden" nutzen, um die Koalition in Bedrängnis zu
bringen.
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Vor dem Regierungswechsel konnte sich die CDU/CSU die mittwochs
stattfindende Kabinettsbefragung schenken, "jetzt versuchen wir,
die Regierung zu piesacken", erläutert Ramsauer den Wechsel
von der größten Regierungsfraktion zur größten
Oppositionsfraktion. Es kommt vor, daß der Parlamentarische
Geschäftsführer auch als Prellbock herhalten muß,
etwa wenn unterschiedliche Interessen aufeinanderstoßen. Ob es
um die Vergabe von Büroräumen geht oder die Benennung der
Ausschußmitglieder – 245 Abgeordnete, darunter die
Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen, wollen
"unter einen Hut gebracht werden". Um Verständigung und
Kompromisse geht es auch im Ältestenrat. In diesem
Lenkungsorgan des Bundestages treffen sich donnerstags
Präsident, Vizepräsidenten und weitere 23 Abgeordnete, um
die Tagesordnung für die nächste Sitzungswoche
festzulegen. Außerdem entscheidet der Ältestenrat auch
über innere Angelegenheiten des Bundestages, wenn diese nicht
dem Präsidenten oder dem Präsidium vorenthalten sind.
Themen und Länge der Debatten sowie die Verteilung der
Redezeit werden im Ältestenrat – meißt
geräuschlos – vereinbart. Für einige Schlagzeilen
sorgte jüngst die Entscheidung, den Bundestag in Berlin
verwaltungsintern "Plenarbereich Reichstagsgebäude" zu
nennen.
Im Ältestenrat trifft Ramsauer auf seinen Kollegen Wilhelm
Schmidt, den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der
SPDFraktion. Der langjährige Abgeordnete muß
immerhin 298 Abgeordnete im Blick haben, darunter viele neu in den
Bundestag gewählte Parlamentarier. Die parteiinterne
Diskussion beim Koalitionspartner über die
NatoLuftangriffe fällt Schmidt ein, wenn er die
Sitzungswoche resümiert, aber auch die
630MarkJobs, die in der Fraktionssitzung lebhaft
debattiert worden sind. Auch in den sitzungsfreien Wochen muß
der Abgeordnete aus Salzgitter in Bonn die Stellung halten: montags
tagt der geschäftsführende Fraktionsvorstand, mittwochs
steht die Abstimmung mit der Regierung und den SPDregierten
Bundesländern auf der Tagesordnung. Eine Menge Arbeit, der
Schmidt einiges abgewinnen kann: "Es ist schöner, schwierig zu
regieren, als leicht zu opponieren."