Das Parlament: Knapp zwei Wochen liegt Ihre Reise nach Tschernobyl jetzt zurück. Mit welchen Eindrücken sind Sie wieder heimgekommen?
Detlef Müller: Ich habe erst vor Ort wirklich begriffen, welches Ausmaß diese Katastrophe hatte. Auf dem Weg in die Sperrzone rund um Pripyat sind wir an verlassenen Dörfern vorbeigefahren. Dort sieht man keinen Menschen, nur verlassene Häuser. Natürlich gibt es keine zurückgelassenen Möbel mehr. Aber Fenster und Türen sind nicht vernagelt - da bekommt man eine sehr eindringliche Vorstellung davon, wie schnell die Menschen damals ihre Heimat verlassen mussten. Am meisten bewegt haben mich aber die vier riesigen Parkplätze, auf denen die Hubschrauber, Busse und Lastkraftwagen abgestellt wurden, mit denen die so genannten Liquidatoren direkt nach dem GAU im Einsatz waren. Dort stehen nicht ein paar Fahrzeuge, das sind tausende. Seit zwanzig Jahren stehen sie da und strahlen vor sich hin, denn sie sind ja vollkommen kontaminiert. Dort habe ich die Dimension von Tschernobyl erst wirklich begriffen.
Das Parlament: Wie war der Eindruck, als sie den Reaktor sahen?
Detlef Müller: Das war ungeheuer beklemmend. Wenn man sich Pripyat nähert, kommt man nicht langsam auf den Reaktor zu. Man fährt um eine Kurve und da steht er auf einmal. Wir hatten immer einen Strahlungsmesser im Auto und der fing auf einmal an zu pochen. Das ist schon gespenstisch.
Das Parlament: Hatten Sie keine Angst, sich auf dem völlig verstrahlten Gelände zu bewegen?
Detlef Müller: Natürlich macht man sich Sorgen, hat Angst vor gesundheitlichen Schäden. Ich habe vor der Reise beschlossen, den Verantwortlichen zu vertrauen, die sagten, dass keine Gefahr bestehe. Wolfgang Faust, ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Minsk, hatte mir vor der Reise gesagt, dass unmittelbar um den Reaktor zwischen 700 und 800 Mikroröntgen pro Stunde gemessen werden - bis zu drei Stunden lang kann man sich dort aufhalten, ohne dass es gefährlich ist. Trotzdem habe ich in den letzten Tagen vor der Reise schlecht geschlafen.
Das Parlament: Sie wollten diese Reise nach Tschernobyl unbedingt machen. Warum?
Detlef Müller: Ich habe 1986 in der DDR gelebt. Uns wurde damals in der "Aktuellen Kamera" das eine gesagt, und in der "Tagesschau" haben wir etwas ganz anderes gehört. Während im Westen Schwimmbäder geschlossen wurden, gab es bei uns auf einmal massenhaft Erdbeeren. Wie versucht wurde, alles zu vertuschen, hat mich immer beschäftigt. Selbst heute bekommt man von verschiedenen Stellen ja völlig unterschiedliche Angaben zu Opferzahlen und Strahlenbelastung. Deshalb wollte ich den Ort mit eigenen Augen sehen. Es ist etwas anderes, wenn man vor dem roten, wegen der Strahlung völlig kaputten Wald in der Ukraine steht oder vor Dörfern in der Nähe des Reaktors, die vollkommen unterpflügt worden sind. Diese Eindrücke kann kein Buch und keine Fotografie vermitteln.
Das Parlament: Sie waren sowohl in Pripyat und Tschernobyl in der Ukraine als auch in Belarus, wo damals etwa 70 Prozent des radioaktiven Fallouts niedergegangen sind. Ist der Umgang mit den Nachwirkungen des Unglücks in beiden Ländern vergleichbar?
Detlef Müller: Überhaupt nicht, dazwischen liegen Welten. In der Ukraine hat man die Menschen aus den betroffenen Gebieten evakuiert. In der 30-Kilometer-Zone leben zwar ein paar Menschen, die heimlich zurückgekehrt sind, aber nicht viele. In den am schlimmsten betroffenen Gebieten in Belarus leben dagegen 1,7 Millionen Menschen. Von Umsiedlung spricht dort niemand - es geht nur darum, ihnen das Leben in den verstrahlten Gebieten so erträglich wie möglich zu machen. Das bedeutet, dass eben die Strahlenwerte in den Lebensmitteln gemessen und veröffentlicht werden und dass es eine Klinik gibt, die sich auf Schilddrüsenkrebs spezialisiert hat. Er tritt dort extrem häufig gerade bei Kindern auf. Dass man dort letztlich vor der Situation kapituliert hat, war für uns eine erschütternde Erkenntnis.
Das Parlament: Wie ist die Haltung beider Staaten zur Nutzung von Atomenergie? Hat das Unglück diese Form der Energiegewinnung diskreditiert?
Detlef Müller: Auch da gibt es Riesenunterschiede zwischen der Ukraine und Belarus. Wir hatten sowohl ein Gespräch mit Iwan Platschow, dem ukrainischen Minister für Brennstoff und Energie, als auch mit Oleg Siwograkow und Viktor Ermolenkow, den Co-Autoren der Nationalen Strategie für nachhaltige Entwicklung aus Minsk. In der Ukraine hat man sich für einen Energiemix mit deutlichen Anteilen an Atomenergie entschieden. Energie ist in der Ukraine spottbillig, entsprechend wird sie verschwendet. Es gibt Fernwärmeleitungen, die nicht einmal isoliert sind. Das Thema Energieffizienz entdeckt man in der Ukraine gerade erst. Um den enormen Energiebedarf stillen zu können, nutzt man Atomenergie - und es wird immer wieder betont, dass die damaligen Reaktoren unsicher waren und eine solche Katastrophe heute nicht mehr passieren könnte. In Belarus ist man dagegen sehr entschieden gegen Atomenergie.
Das Parlament: Wie stark hat die Reise nach Tschernobyl Ihre eigene Haltung zur Atomenergie beeinflusst?
Detlef Müller: Wir vier Abgeordneten waren uns vor der Reise einig, dass es nicht darum geht, Argumente für oder gegen den Atomausstieg zu finden. Trotzdem kreisen die Gedanken immer wieder um das Thema. Der Sarkophag, der den Reaktor umschließt, soll ja demnächst mit einem so genannten Shelter, einer zweiten Schutzhülle, umschlossen werden. Dann tritt zwar keine Strahlung mehr nach oben aus und die Gefahr von Kettenreaktionen durch eintretendes Wasser ist gebannt - aber der Reaktorkern ist 1986 ja auch nach unten durchgebrannt. Für das, was an Strahlung in den Boden und damit ins Grundwasser geht, gibt es ebensowenig eine Lösung wie für den Schutt im Inneren des Reaktors. Die Verantwortlichen sagen, dass der Shelter etwa 100 Jahre halten soll und dass man hofft, dass es bis dahin Lösungen für die Endlagerung radioaktiver Abfälle geben wird. Die Schutzhülle wird über eine Milliarde Dollar kosten - und sie ist letztlich keine Lösung, sondern nur ein Aufschieben des Problems. Und das ist ja nicht nur in Tschernobyl so. Auch für unsere deutschen radioaktiven Abfälle gibt es bislang keine endgültige Lagerung. Da fragt man sich schon, was wir kommenden Generationen eigentlich zumuten.
Das Interview führte Susanne Kailitz