Er hat seinen festen Platz in den Geschichtsbüchern und ist geradezu sprichwörtlich geworden: der Gang nach Canossa. Auch wenn die konkreten historischen Ereignisse für die meisten Menschen in Deutschland längst im Dunkel der Geschichte verschwunden scheinen, so wirken sie bis in die heutige Zeit. Als sich der deutsche König Heinrich IV. im Winter des Jahre 1076/77 aufmacht, die Alpen zu überqueren, um Papst Gregor VII. bußfertig zu bitten, wieder in den Schoß der "Heiligen Mutter Kirche" aufgenommen zu werden, macht er damit einen ersten Schritt in jene Welt, die heute so selbstverständlich scheint - eine Welt, in der Kirche und Staat, Politik und Religion weitgehend getrennt voneinander, nebeneinander existieren.
Stefan Weinfurter, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg und ausgewiesener Kenner der Salierzeit, haucht in seinem "Canossa" jener Zeit, in der geistlich-religiöse Macht und staatlich-politische noch eine Einheit bilden, wieder Leben ein. Und Weinfurter beweist, dass sich mittelalterliche Geschichte auch in einer wissenschaftlichen Publikation ganz staubfrei präsentieren lässt - erklärend und spannend geschrieben.
Das Bild eines weltlichen Herrschers, der sich reumütig einem geistlichen Herrscher erklären muss, würde in der heutigen säkularen Zeit ungläubiges Staunen auslösen. Vor 930 Jahren löst es ebenfalls ungläubiges Kopfschüteln aus - aber aus völlig anderen Gründen. Für den mittelalterlichen Menschen sind kirchliche und weltliche Buß- und Demutsbezeugungen nicht ungewöhnlich. Schockierend für die damalige Zeit sind jedoch jene Vorgänge, die den Salier schließlich nach Canossa führen und was dadurch langfristig - und bis dahin unvorstellbar - ausgelöst wird: Staat und Kirche gehen getrennte Wege. Heute würde man formulieren: Nicht ist mehr wie es einmal war.
Im Jahr 1075 vergibt Heinrich IV. als Lehnsherr des Mailänder Bischofs dessen vakantes Bistum neu. Dies führt zum Konflikt mit Papst Gregor VII, der das alleinige Recht auf Einsetzung eines Bischofs beansprucht. Der so genannte Investiturstreit eskaliert: Der König erklärt den Papst für abgesetzt, Gregor exkommuniziert Heinrich im Gegenzug und belegt ihn mit dem Kirchbann. Für den Salier eine politische Katastrophe - damit sind alle Untertanen des Königs von ihren Treueverpflichtungen entbunden, die Herrschaft Heinrichs wackelt bedenklich. Bis dahin hatte sich der König selbst als Stellvertreter Gottes auf Erden verstanden. Nun degradiert ihn der Papst zu einem rein weltlichen Herrscher. Der Deutsche tritt die Flucht nach vorne an; er weiß, nur die Wiederaufnahme in der Kirche kann sein Königtum retten. Im norditalienischen Canossa treffen die Kontrahenten aufeinander - der hochpolitische Deal gelingt.
Im Deutschland des 19. Jahrhunderts begegnet man dem Gang nach Canossa noch einmal. Und diesmal weist die weltliche Macht die geistliche in die Schranken: Im Verlauf des "Kulturkampfes" - Reichskanzler Otto von Bismarck drängt den Einfluss der katholischen Kirche aus der Politik zurück - lehnt der Papst den Gesandten des Deutschen Reiches beim Heiligen Stuhl in Rom ab. Bismarck zeigt sich am 14. Mai 1872 vor dem Reichstag unbeeindruckt: "Seien Sie außer Sorge, nach Canossa gehen wir nicht - weder körperlich noch geistig."
Stefan Weinfurter: Canossa. Die Entzauberung der Welt. Verlag C.H. Beck, München 2006, 254 S., 19,90 Euro