Denkt man ans Ruhrgebiet, fallen einem Namen wie Schimanski oder Kowalski ein - Tatort-Kommissar der eine, der andere im Gelsenkirchener Telefonbuch so gebräuchlich wie anderenorts Schmidt und Müller. Die Verbindung der Polen mit dem Pott hat Tradition. Doch rückblickend war sie nie so konfliktfrei, wie man heute glauben mag. Insgesamt 20 deutsche und polnische Jugendliche wollen es genau wissen und begaben sich auf Spurensuche im Revier.
Marcin ist einer von ihnen, der gemeinsam die Einwanderung der ehemaligen Ruhrpolen unter die Lupe nehmen will. Sind es nur die Namen, die die Zuwanderer aus dem Osten hinterlassen haben? Wie lebten sie sich ein an Emscher und Ruhr? Und sind die europäischen Nachbarn von heute gut integriert?
Der 16-jährige Marcin beschäftigt sich mit polnischen Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs. Die kommenden acht Tage liegt noch eine Menge Arbeit vor ihm, denn Ziel der Veranstaltung, zu der die Bundeszentrale für politische Bildung, die Initiative Schulen ans Netz, das Bildungswerk die Humanistischen Union und das Aktuelle Forum NRW eingeladen haben, ist es nicht nur, die Informationen aus Quellen und persönlichen Gesprächen zusammenzutragen. Die Ergebnisse sollen später auch online, auf www.exil-club.de veröffentlicht und im Essener Bürgerfunk gesendet werden. Marcin ist gespannt auf die Spurensuche, die ihm auch etwas über das Leben seiner Vorfahren erzählen wird. Genau so sieht das Arkadiusz, der selbst seit rund neun Monaten in Deutschland lebt. Er weiß aus eigener Erfahrung was es heißt, Freunde und Familie hinter sich zu lassen und beschäftigt sich in seiner Gruppe mit den ersten polnischen Migranten, die Ende des 19. Jahrhunderts als Bergarbeiter für das Gebiet zwischen Duisburg und Dortmund, Recklinghausen und Hattingen angeworben wurden. Eingebunden ist die Spurensuche in die Veranstaltungsreihe "Wszystko jasne? (Alles klar?) - Europa verstehen: Polen" der Bundeszentrale für politische Bildung.
Die meist jungen Polen kamen damals aus den preußischen Ostprovinzen des Deutschen Reichs. Sie fanden Arbeit im Bergbau und der Eisenhüttenindus-trie und wohnten in den typischen kleinen Zechenkolonien Bottrops, Hernes oder Bochums. In einigen Betrieben stellten die Polen zeitweise mehr als die Hälfte der Belegschaft dar. Schätzungsweise eine halbe Million sollen bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eingewandert sein. Sie gründeten eigene Vereine, eigene Zeitungen und 1902 eine eigene Gewerkschaft, Zjednoczenie Zawodowe Polskie, die ZZP. Die preußische Obrigkeit unterdrückte die Kultur der polnischen Migranten, als Pollacken wurden sie von der Bevölkerung beschimpft.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs kehrten deshalb viele von ihnen in das neu gegründete Polen zurück oder zogen weiter in die französischen und belgischen Kohlegebiete. Auch im Zweiten Weltkrieg behandelte man die polnischen Zwangsarbeiter auf Grund der NS-Rassenhierarchie besonders schlecht. Historisch betrachtet ist die Geschichte der Polen im Ruhrgebiet also eine Geschichte der Unterdrückung und Diskriminierung und weniger das Paradebeispiel gelungener Integration, für das sie heute oft angeführt wird. Das meint auch Josef Herten vom Polnischen Institut in Düsseldorf: "Es war ein schwieriger und leidvoller Prozess", sagt er, "gleichwohl die Polen heute völlig assimiliert sind."
Herten hat die Ausstellung "Kaczmarek und andere. Polnische und polnischsprachige Zuwanderer im Ruhrgebiet 1875 bis heute", die derzeit in der Gelsenkirchener Flora zu sehen ist, konzipiert. Auch die Jugendlichen aus dem Workshop waren dort. Viele der Ruhrpolen, so Herten, haben sich im Lauf der Zeit deutsche Namen zugelegt - teils weil die Deutschen die polnischen Namen nicht aussprechen konnten, teils weil es von der Obrigkeit so gewollt wurde. Auch Kaczmarek ließ sich in Kammann umbenennen. Will man herausfinden, wie viele Menschen polnischer Herkunft heute im Ruhrgebiet leben, ergibt sich da-raus ein Problem: Viele Leute wissen nämlich gar nicht, dass sie polnische Vorfahren haben, sagt Herten.
Verlässliche Zahlen über die Anzahl der Menschen mit polnischem Hintergrund im Revier gibt es tatsächlich nicht. Weder das polnische Generalkonsulat in Köln, noch die polnische Botschaft in Berlin oder die deutschen Behörden können dazu Angaben machen. Fest steht, dass derzeit nach Angaben des statistischen Landesamts NRW von den 5,3 Millionen Menschen im Ruhrgebiet rund 23.0000 die polnische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Nachfahren der Ruhrpolen haben aber längst einen deutschen Pass. Herten selbst gibt folgende Schätzung ab: Rund ein Viertel aller im Ruhrgebiet lebenden Menschen haben polnische oder masurische Vorfahren.
Die größte polnischstämmige Community - noch größer als die in Hamburg oder Berlin - gibt es also im Revier. Das ist mit ein Grund, weshalb sich neue Einwanderer dort schnell wohl fühlen, meint Teresa Wanczura, die den Workshop leitet. Die Referentin ließ sich selbst in den 80er-Jahren dort nieder. Doch es sind nicht nur die gewachsenen Strukturen, die polnischen Lebensmittelgeschäfte oder Discos, die es den Leuten einfacher machen. Es gibt noch mehr Gemeinsamkeiten: Schlesien beispielsweise sei dem Ruhrgebiet auch äußerlich sehr ähnlich. Die Städte gehen ineinander über, beide Regionen sind mit Bergbau und Schwerindustrie verbunden. Deshalb fühlten sich die Schlesier sofort wohl.
Wanczura freut sich sehr, dass ihre Truppe sich allmählich zusammenrauft. Gleich am ersten Abend, beim gemeinsamen Essen in einem polnischen Restaurant, habe es einen kleinen Durchbruch gegeben, wie sie es nennt. Bei "Zurek" und anderen Spezialitäten seien die polnischen und deutschen Jugendlichen miteinander ins Gespräch gekommen. Und das sei schließlich das Ziel, sich näherzukommen, lacht sie.
Einen Tag später hat die Gruppe ihre erste Ruhrgebiets-Tour hinter sich. Das Weltkulturerbe Zeche Zollverein in Essen hat sie besucht, Zeche Haniel in Bottrop und die neue Arena Auf Schalke, weil die Geschichte des Bundesligavereins mit Namen wie Burdenski, Tibulski und Kuzorra verbunden ist, alle-samt Kinder polnischer und masurischer Eltern.
Für die 18-jährige Juliane, die eigentlich aus Reck-linghausen kommt, sind das auch alles neue Erfahrungen. "Ich hatte vorher keinen Kontakt zu Polen", sagt sie. Sie ist gespannt auf die verbleibenden Tage. Nach der Präsentation ihrer Arbeiten wollen sie und die anderen Deutschen diesmal die Polen zu einem typischen Abendessen ausführen. Da gibt es dann vielleicht Currywurst Pommes rot-weiß. Oder was wäre typischer für das Ruhrgebiet?
Hinweis: "Mit Wszystko jasne? (Alles klar?) - Europa verstehen: Polen" endet das Deutsch-Polnische Jahr. Die Veranstaltungsreihe im Ruhrgebiet ist gleichzeitig Auftakt für die noch bis zum 23. Mai mit Ausstellungen, Seminaren, Studienreisen, Diskussionen, Film und Aktionen deutschlandweit stattfindenden "Aktionstage Politische Bildung", einer Initiative der Bundeszentrale, der Landeszentralen sowie des Bundesausschusses für politische Bildung.