Der Start war nicht eben glanzvoll. Erst im dritten Wahlgang wurde Eugen Gerstenmaier im November 1954 zum ersten Mal zum Bundestagspräsidenten gewählt - und auch da nur mit einer Mehrheit von 14 Stimmen. Er sei "zu politisch für das Amt", wurde ihm entgegengehalten. Doch im Verlauf seiner Amtszeit errang der CDU-Politiker das Vertrauen der Abgeordneten und den Respekt des ganzen Hauses. Noch dreimal - 1957, 1961 und 1965 - wurde er mit jeweils großer Mehrheit in seinem Amt bestätigt, ehe er 1969 zurücktrat. Er stand damit länger als jeder andere an der Spitze des Parlaments.
"Gerstenmaier begriff sich stets als erster Repräsentant des Parlaments und handelte danach", hob Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in seiner Würdigung hervor. Er habe dem Parlament in der Zeit des Wiederaufbaus und der Fertigung des demokratischen Deutschland eine klar umrissene Gestalt und Respekt in der Öffentlichkeit verschafft und das Selbstverständnis der Parlamentarier gefestigt. Am Aufbau des neuen, demokratischen Staates Bundesrepublik Deutschland mitzuwirken und dem Parlament in diesem Staat den ihm gebührenden Rang zuzuweisen, habe für Gerstenmaier im Zentrum seiner Präsidententätigkeit gestanden.
Dieses Selbstbewusstsein des Parlaments als des zentralen Verfassungsorgans sollte sich auch durch einen eigenen parlamentarischen Stil ausdrücken, stellte Lammert heraus. So sei unter der Ägide Gerstenmaiers das noch heute gültige Zeremoniell eingeführt worden, dass die Abgeordneten sich beim Eintritt des amtierenden Präsidenten in den Plenarsaal erheben und sich erst wieder setzen, wenn auch der Präsident Platz genommen hat. Auch der Frack als Bekleidung für die Saaldiener sei damals eingeführt worden. Darüber hi-naus habe sich Gerstenmaier während seiner gesamten Amtszeit "mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit" bemüht, die Arbeitsmöglichkeiten für die Abgeordneten zu verbessern und etwa zu ermöglichen, dass jedes Bundestagsmitglied ein eigenes Büro bekam. Als "auffälligstes Zeichen" dieser Bemühungen bezeichnete Lammert den "Langen Eugen" - das Abgeordnetenhochhaus in Bonn, mit dessen Bau 1966 begonnen wurde.
Lammert hob insbesondere das Eintreten Gerstenmaiers für die Wiederherstellung der deutschen Einheit hervor. Unter keinem anderen Präsidenten habe das Parlament in der Zeit der deutschen Teilung mehr Präsenz in Berlin gezeigt, stellte er fest. Auch den Wiederaufbau des Reichstagsgebäudes habe der damalige Präsident "in zähen Verhandlungen und gegen mancherlei Widerstände" durchgesetzt. Gerstenmaiers Engagement war dabei nach Lammerts Worten nie von Taktik geprägt, sondern stets eingebettet in "seine tief empfundene Verantwortung vor der deutschen Geschichte".
Annemarie Renger, Bundestagspräsidentin von 1972 bis 1976 charakterisierte Gerstenmaier als "besonderen Präsidenten" und "wirklich gesamtdeutsch denkenden Mann". Ansonsten, konstatierte sie, habe der Bundestagspräsident "doch schon alles gesagt". So schlug sie statt dessen einen großen Erinnerungsbogen von ihren Anfängen als Abgeordnete über ihre Amtszeit als Präsidentin bis zu ihrer ersten Begegnung mit Angela Merkel. "Ein interessantes Erlebnis" sei das gewesen, bekannte sie. Und ganz nebenbei bekundete die Sozialdemokratin, die als erste Frau dem Parlament vorsaß, ihre Sympathie für die erste Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland: "Ich freue mich immer, wenn ich Sie sehe, Frau Bundeskanzlerin, weil ich es toll finde, dass Sie in einer sehr schwierigen Zeit eisern dastehen, die Nerven behalten und dieses Land, in dem es doch nicht nur in der einen Partei unterschiedliche Meinungen gibt, in dieser Weise führen." Aber: "Sie könnten öfter lächeln."