Türkei
Der Streit um das Präsidentenamt ist fast gelöst
Die Wahl des neuen türkischen Staatspräsidenten im Parlament von Ankara markiert eine Zeitenwende für das Land. Vier Monate nach der durch die Putschdrohung der Militärs ausgelösten Staatskrise schickt sich Außenminister Abdullah Gül an, das höchste Amt im Land zu übernehmen. Der Streit um die Kandidatur des 56-Jährigen, dem Gegner eine heimliche islamistische Agenda vorwerfen, ist zwar noch nicht ganz ausgestanden. Doch die so gut wie sichere Wahl von Gül im Parlament zeigt, dass die von ihm vertretene neue anatolische Mittelschicht den Machtkampf gegen die traditionellen kemalistischen Eliten der Türkei für sich entschieden hat.
Die Kemalisten, die sich auf Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk berufen und Gül sowie die Regierungspartei AKP für eine islamistische Gefahr halten, betrachteten das Präsidentenamt bisher als eine Art Erbhof. Dass ein frommer Anatolier wie Gül, dessen Frau das islamische Kopftuch trägt, nun auf dem Sessel Atatürks Platz nehmen will, ist für die Kemalisten eine Horrorvorstellung.
Im Frühjahr konnten kemalistische Oppositionsparteien sowie die kemalistisch eingestellten Führungskräfte in Militär und Justiz Güls Präsidentschaft noch verhindern. Doch der Sieg der AKP bei der Parlamentswahl am 22. Juli war eine bittere Niederlage für die Kemalisten und ihren Anspruch, die wahre Türkei zu vertreten: Sie mussten hinnehmen, dass jeder zweite türkische Wähler der AKP vertraute. Das Wahlergebnis macht es auch für die Armee schwer, erneut gegen Gül einzuschreiten. Nach Umfragen befürworten zwei von drei Türken die Präsidentschaft Güls. Auch die großen Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften unterstützten ihn. Diese breite Zustimmung ist nicht nur ein Vertrauensbeweis für Gül selbst, sie signalisiert auch, dass viele Türken den Präsidentenstreit satt haben.
Insbesondere die Unternehmerverbände dringen auf die rasche Fortsetzung von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Reformen und auf neue Initiativen für den EU-Prozess der Türkei. Wie viele türkische Normalbürger wollen sie den Mühlstein der Präsidentenkrise endlich los sein. Sie wollen, dass die neue Regierung und das neue Parlament endlich ihre Arbeit aufnehmen - sie wollen, dass es weitergeht im Land. Schließlich warten Probleme wie die hohe Arbeitslosigkeit, der Kurdenkonflikt und die Bildungsmisere auf Lösungen. Ein Präsidentenstreit, kommentierte eine Zeitung kürzlich, sei reine Zeitverschwendung.