Wolfgang Ernst
Universitäten bleiben wichtige Instanzen, um Wissen zu autorisieren, sagt der Medienwissenschaftler
Herr Professor Ernst, seit Jahrhunderten herrscht in Sachen Wissen ein Buchmonopol vor. Bücher sind die Medien, die Wissen konservieren. Welche Auswirkungen hatte das bisher auf unser Wissen?
Das ist für den Wissensbegriff ganz entscheidend. Im Wort "Wissen" klingt das sogar noch an. Das ist ja eine Ableitung vom lateinischen "visum" und bezeichnet somit das, was gesehen worden ist. Im Wort "Wissen" zeichnet sich demnach eine Privilegierung des Sehsinns ab: Als Lesende bevorzugen wir optische Informationen. Das gilt zunächst natürlich für das Vokalalphabet, hat aber auch Gültigkeit für den so genannten Iconic Turn: Schauen Sie sich die Oberflächen auf dem Computer an. Auch hier sind die meisten optisch orientiert.
An der visuellen Ausrichtung unseres Wissens haben die neuen digitalen Medien nichts geändert?
Neue Medien bilden zunächst die Gebrauchsweisen der alten Medien ab. So hat etwa der frühe Film zunächst das Theater abgebildet. Erst mit der Entwicklung von Schnitt und Montage fand er zu eigenen Formen und Ausdrucksmitteln. Dasselbe gilt auch für die digitale Kultur.
Digitales Wissen ist zunächst also textorientiert?
Ja. Wenn sie "googeln", dann greifen sie auf Text zurück. Erst jetzt, mit kürzeren Ladezeiten, geht man immer mehr auch zu Bildern und Filmen über. Aber egal ob die Informationen am Ende akustisch oder optisch aufbereitet werden, sie sind zuvor immer binär verarbeitet worden. Digitales Wissen steht auf der Programmierebene also der Mathematik und der Logik nahe, sie ist die Grundlage des Computers. Und so wird diese selbst zur zentralen Medien- und Wissenskompetenz. Bücher waren in gewisser Weise passive Medien. Um aktiviert zu werden, konnten sie nur gelesen werden. Digitale Medien kann man sich jedoch aktiv aneignen. Die Zukunft des Wissens hängt also von der Frage ab, ob man die so genannten User in die Rolle versetzen will, sich das Medium aktiv anzueignen oder ob man sie nur zu rein spielerischen Nutzern machen will. Bildungspolitisch muss man sich daher für eine Computerkompetenz im aktiven Sinne stark machen. Dann kommen wir wirklich in der digitalen Kultur an.
Bleiben wir zunächst an den Universitäten. Sie können dort direkt mitverfolgen, wie sich der mediale Wandel niedergeschlagen hat. Ist die Universität noch "Universitas literarum"?
Bis dato sind die Formen der Wissensaneignung noch immer Vorlesung, Seminar und Textarbeit. Das hat einen Grund: Die argumentativen Formen des Wissens nämlich finden ihre optimale Verkörperung im geschriebenen und gesprochenen Wort. Im Kern der Universität steht noch immer das Argument, und für dieses sind die Medien Text und Wort noch immer zentral.
Zunehmend wird das Gedächtnis der Menschheit auch audiovisuell gespeichert. Wie geht man an den Hochschulen mit dieser Herausforderung um?
Das ist besonders in Deutschland ein Problem. Bereits das Gedächtnis des 20. Jahrhunderts ist ja in hohem Maße in Bild- und Tondaten überliefert. Anders als etwa in Frankreich fehlt uns aber eine audiovisuelle Nationalbibliothek - also eine öffentlich zugängliche Bild- und Tondatenbank. Das hat die Politik hier schlicht verschlafen. Dabei haben wir ein erfolgreiches Bibliotheksmodell; es müsste nur auf das audiovisuelle Erbe übertragen werden.
Die aktuelle Generation der Studierenden scheint zwischen unterschiedlichen Wissensspeichern bereits ganz selbstverständlich zu "switchen".
Hier findet tatsächlich ein entscheidender Generationswechsel statt. Statt wie selbstverständlich in die Seminarbibliothek zu gehen, saugen sich die jetzigen Studierenden ihr Wissen im hohen Maße bereits aus dem Netz. Die Wikipedia etwa ersetzt hier erstmals das klassische Buchwissen.
Aber kein Wikipedia-Artikel umfasst doch die Informationen eines Fachbuches zum selben Stichwort.
Das ist in der Tat der Unterschied zwischen einem Alltagswissen, das man sich bei den Angeboten des Web 2.0 abholen kann, und akademischem Fachwissen. Für Letzteres muss man am Ende immer auf Bücher zurückgreifen - zumal historisches Wissen oft nicht digitalisiert vorliegt. Die Bibliotheken sind einfach überfordert damit, eine Retro-Konvertierung vorzunehmen. Bei neuem Wissen, das oft schon digitalisiert produziert worden ist, ist das natürlich anders.
Wie verändert sich durch die digitalen Wissensspeicher die grundlegende Architektur des Wissens? Plakativ gefragt: Was ist der Unterschied zwischen Web 2.0, einer Bibliothek oder einem Archiv?
Die Langsamkeit im Unterschied zur Schnelligkeit. Die Halbwertzeit des Wissens ist fast exponentiell gestiegen. Wenn Studierende einen Artikel aus der Wikipedia in ihrer Hausarbeit angeben, dann müssen sie auch URL und Zugriffszeit angeben. Das Wissen im Web 2.0 steht schließlich unter stündlichem Erneuerungsdruck. Wissen wird dynamischer. Wenn es also um Wissensarchitektur geht, muss man konstatieren, dass klassische Systeme wie Archiv oder Museum immer Wissensräume vorgegeben haben. Nun aber löst sich das Ordnungssystem aus der räumlichen Struktur und wird zunehmend verzeitlicht. Ich kann manchmal schon nicht mehr jenes Wissen kontrollieren, das in einer Hausarbeit von vor einem halben Jahr zitiert worden ist - schlicht, weil die Website nicht mehr existiert.
Neben der Verzeitlichung, die bei vielen Internetnutzern ein Gefühl von Unübersichtlichkeit hinterlässt, wird der klassische Autor zunehmend infrage gestellt. Fällt die Beglaubigungsautorität der Texte weg?
Sicherlich. Und genau das ist der Grund dafür, warum wir das System der Universität auch weiter als Kontrollmechanismus brauchen. Wissenschaft steht und fällt nämlich damit, dass sie ein System der Autorisierung entwickelt hat. Dieses macht diskutierbar und kontrollierbar. Je mobiler also die Wissenssysteme werden, je wichtiger wird auch wieder die Universität als Beglaubigungsinstanz. Hier hat man einfach Zeit, Wissen in Ruhe zu filtern, zu durchdenken und in nachvollziehbare Strukturen zu bringen.
Heute bildet sich zunehmend eine andere Beglaubigungsinstanz von Texten heraus - das ist der Mythos von der demokratischen Verifizierbarkeit: Je mehr Menschen am Aufbau von Wissen partizipieren, desto näher komme man der objektiven Wahrheit, heißt es.
Dieser Mythos weist auf etwas hin, was an der Universität lange vernachlässigt worden ist. Neben jenem Wissen, das wissenschaftlich zur Verantwortung gezogen werden kann und nachprüfbar ist, gibt es noch eines, das man als soziales Wissen beschreiben könnte - eines, das eben nicht einzelnen Autoren entstammt, sondern das sozusagen im Raum des Netzes selbst erwächst; eines, das sich aus dem kollektivem Gedächtnis bildet. Aber dieses Wissen löst das konventionelle Wissen natürlich nicht ab.
Das hat aber eine Kehrseite: das Vergessen. Wer bestimmt im digitalen Raum, was vergessen wird und wie man am Ende mit all dem Datenstaub verfährt?
Das Interessante an konventionellen Archiven war, dass ihre vornehmste Aufgabe tatsächlich darin bestand, Wissen auszusortieren. Es wurden also Kriterien der Überlieferungswürdigkeit geschaffen. Das gibt es im Netz nicht. Daher muss die Lösung in einer neuen Ordnung der Unordnung gesucht werden. Wir würden verzweifeln, wenn wir versuchen würden, diese neuen Wissensmengen in alten Ordnungsstrukturen abzubilden. Ohne dabei in Chaos und Anarchie zu verfallen, muss man am Ende wohl konstatieren, dass sich zunehmend eine Ästhetik der Unordnung herausbilden wird.
Wolfgang Ernst ist Professor für Medientheorien und Geschäftsführender Direktor am Seminar für Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.
Das Interview führte Ralf Hanselle. Er arbeitet als Publizist in Berlin.