In den vergangenen Jahren lenkten mehrere internationale Ereignisse die öffentliche Aufmerksamkeit auf Religion und die Rolle von religiösen Kulturen und Gemeinschaften in Politik und Gesellschaft. Zwar haben sich viele Vertreter der unterschiedlichsten Glaubensgemeinschaften zentrale Werte wie Frieden, Gerechtigkeit und Achtung der menschlichen Würde auf ihre Fahnen geschrieben, aber eine Minderheit unterstützt politischen Extremismus und Gewalt. Die Terrorangriffe in New York und Washington am 11. September 2001 zählen nur zu den neueren Auswüchsen der Gewalt im Namen der Religion, sind jedoch zum Symbol für das Problem geworden. Natürlich berichten die Medien über Konflikte und Krisen und können somit die öffentliche Wahrnehmung von Religionen beeinflussen. Daher sollte es nicht überraschen, ein Wiederaufleben des Antisemitismus zu beobachten oder zu sehen, wie weit verbreitet die Islamophobie plötzlich zu sein scheint.
Diese Entwicklungen verlaufen parallel zur Verschiebung der europäischen Grenzen in Richtung Osten, d.h. parallel zur bisher größten Erweiterung der Europäischen Union. Die Osterweiterung unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht qualitativ von früheren Erweiterungen: Sie wird Teile Europas mit einer anderen religiösen Kultur und Identität in die Europäische Union eingliedern als diejenige, die wir gewohnt sind. Einerseits werden orthodox-christliche Traditionen und slawisch-katholische Kulturen neues Gewicht gewinnen, erstere sogar noch mehr, wenn, wie erwartet, in einigen Jahren auch Rumänien und Bulgarien beitreten werden. Andererseits werden wir erleben, wie die zentralen Regionen des alten europäischen Judentums wieder ins Blickfeld rücken, Regionen, die während der vergangenen 150 Jahre von Pogromen und schließlich vom Völkermord der Nationalsozialisten erschüttert wurden. Mit einer Erweiterung der EU in Richtung Balkan gelangen wir in Länder, in denen Muslime seit Jahrhunderten ein fester, ursprünglicher Teil der Gesellschaft sind, also in Länder, in denen der Islam nicht wie in den älteren Mitgliedsstaaten der EU ein von den Einwanderern "mitgebrachtes" neues Phänomen ist.
Es gab eine Zeit, in der eine der Prioritäten der europäischen Institutionen lautete, eine einheitliche europäische Identität, d.h. die gemeinsamen Elemente des europäischen Erbes und der europäischen Kultur, zu fördern. Doch heute, wo sich mehr und mehr Menschen von außerhalb unseres Kontinents hier niederlassen, mit der Veränderung der ethnischen und religiösen Minderheiten durch Migrantinnen und Migranten, wächst das Bewusstsein für den Reichtum und die Kreativität der kulturellen Vielfalt. Nur durch eine Vertrautheit mit ihr ist es für die einzelnen Gesellschaften in Europa möglich, konstruktiv und letztendlich auch friedlich voranzukommen. Die bevorstehende Erweiterung der EU wird uns vor Augen führen, wie wichtig es ist, diese kulturelle Vielfalt anzuerkennen.
Worin besteht diese Vielfalt? Es handelt sich dabei nicht nur um den tatsächlich fassbaren Ausdruck in Form von architektonischen oder technischen Meisterleistungen. Es geht vielmehr um traditionelle Denkmuster, Einstellungen, Sitten und Gebräuche, um Ernährung, Kunst, Literatur, die Art des Lernens, um Musik und Liturgie - Bereiche, die untrennbar und tief greifend mit religiösen Traditionen verwoben sind. Für Europa bedeutet dies zunächst einmal und vor allem die christlich-abendländische Tradition. Durch die Emanzipation im Zeitalter der Aufklärung wurde auch Raum für die ausdrückliche Beteiligung jüdischer Beiträge geschaffen. Doch erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts wird auch der Islam einbezogen. Leicht wird vergessen, dass man sowohl Beiträge des Judentums als auch des Islams schon viele Jahrhunderte früher finden kann: die jüdischen, seitdem es das Christentum gibt, die muslimischen, seitdem es den Islam gibt. Europa wurde ursprünglich auf einer kulturellen Vielfalt gegründet, die in Vergessenheit geraten ist oder gar unterdrückt wurde.
Heutzutage ist es unverzichtbar für die Bürgerinnen und Bürger der EU, sich in der kulturellen Vielfalt sowie in den kulturellen Erfahrungen der Geschichte auszukennen. Das schließt die Fähigkeit ein, über die enge kulturelle Dimension hinauszugehen und diese zusammen mit den ihr zugrunde liegenden religiösen Einflüssen zu verstehen. Dabei handelt es sich nicht um eigenständige oder gar gegenseitig unverständliche Welten. Sie standen schon immer in Wechselbeziehungen und werden sich auch künftig gegenseitig beeinflussen. Es geht darum, Verflechtungen und wechselseitige Einflüsse zu verstehen.
Natürlich gibt es viele Lebensbereiche, in denen man sich ein solches Verständnis aneignen kann. Die Schule ist nach wie vor der Ort, an dem ein solches Verständnis am bewusstesten und konzentriertesten vermittelt werden kann, denn von dort wird es weiter in die gesamte Gesellschaft getragen. Diese Überlegung war der Ausgangspunkt für das Projekt "Europäische Identität und kultureller Pluralismus: Judentum, Christentum und Islam in europäischen Lehrplänen", eine Initiative der Herbert-Quandt-Stiftung der Altana AG, die von 2000 bis 2002 1 realisiert wurde. Die dem Projekt zugrunde gelegten Prämissen waren: Die Vergangenheit Europas war trotz des vorherrschenden Christentums pluralistisch und wird es auch in Zukunft sein; Pluralismus muss nicht prinzipiell und inhärent Antagonismus bedeuten; gesicherte Kenntnisse der eigenen Vergangenheit und des eigenen Erbes sowie ein Gefühl von Sicherheit bezüglich der eigenen Zukunft bilden die Grundlagen für das gegenseitige Verständnis der verschiedenen religiösen Gruppen. 2
Von Anfang an kristallisierte sich heraus, dass das Thema eng mit dem Bereich religiöse Bildung zusammenhängt. Rasch rückte die enorme Vielzahl unterschiedlicher Ansätze in diesem Bereich in verschiedenen Teilen Europas in den Mittelpunkt. An einem Ende des Spektrums steht die laïcité in Frankreich, die jedwede Form von Religionsunterricht, ja sogar religiöse Symbole in staatlichen Schulen, unterbindet, obwohl ein bestimmter Teil davon schon immer in den Lehrplänen des Geschichtsunterrichts untergebracht werden konnte. Am anderen Ende des Spektrums findet sich England, wo es seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts einen so genannten Multi-Glaubensansatz für Religionsunterricht in staatlichen Schulen gibt. Dieses Modell hat die Unterrichtspraxis in vielen europäischen Ländern beeinflusst. Seit Mitte der neunziger Jahre wurde es, entsprechend adaptiert, auch offiziell in Norwegen eingeführt.
Diese beiden Modelle sind in den jeweiligen Ländern jedoch nicht unangefochten. In England steht seit dem Education Reform Act (Bildungsreformgesetz) von 1988 christlicher, nichtkonfessioneller Religionsunterricht als Hauptbestandteil im Lehrplan für Religion, gleichzeitig wurde aber auch den anderen größeren Religionsgemeinschaften in der jeweiligen Gemeinde ein gesetzlich garantierter Raum eingeräumt. Auf der anderen Seite empfahl im Jahr 2002 eine französische Kommission unter dem Vorsitz von Régis Debray die Einführung einer Art von informativem Religionsunterricht an den staatlichen französischen Schulen, ein Gedanke, der später die Unterstützung des Präsidenten, des Ministerpräsidenten und des Bildungsministers fand.
In den meisten Ländern, vor allem in Westeuropa, existiert noch immer eine Form des konfessionellen Religionsunterrichts, teilweise wird dieser in Zusammenarbeit mit den offiziellen Organen der jeweiligen Religionsgemeinschaften entwickelt und abgehalten. Schon seit langem gibt es in einigen Ländern einen derartigen Religionsunterricht auch für Juden, und er wurde durch verschiedene Gesetzesformulierungen in einigen wenigen Ländern (z.B. Österreich und Belgien) auch für Muslime möglich.
Natürlich findet ein Großteil der Debatte um den Religionsunterricht zwischen denjenigen statt, die das Thema in seiner eher traditionellen, katechistischen Form abgehandelt sehen wollen bzw. als ganz praktische, religiöse Unterweisung der nächsten Generation im Gemeinschaftsglauben, und denjenigen, die es für etwas halten, was die Kinder wissen und kennen sollten, wenn sie ihre Bürgerrechte und -pflichten wahrnehmen wollen, ob sie nun gläubig sind oder nicht. Die Ambivalenz dieser Debatte lebt fort, insbesondere, da heute für Eltern fast überall die Möglichkeit besteht, ihre Kinder vom Religionsunterricht abzumelden - ganz gleich, wie dieser Unterricht aussieht.
Angesichts dieser komplexen Rahmenbedingungen konnte es in dem Projekt nicht einfach nur darum gehen, gewissermaßen ein "Curriculum für Europa" anzubieten. Die Projektpartner wollten vielmehr Vorschläge machen, die für diejenigen, die einen Einfluss auf die Gestaltung der Lehrpläne haben, relevant sind: Politiker und Beamte aus dem Bildungsbereich, diejenigen, welche die Lehrpläne ausarbeiten, Verleger von Unterrichtsmaterialien, Lehrerausbilder, schließlich die Lehrer selbst. Das Ziel war es, diesen Menschen und Einrichtungen einen Anreiz zum Nachdenken zu bieten und ihnen Leitlinien an die Hand zu geben, die letztlich im Klassenzimmer umgesetzt werden können. Es sollte ein Beitrag zur Bildung der Kinder dahingehend geliefert werden, dass sie die unterschiedlichen religiösen Kulturen verstehen, aus denen sich die europäische Gesellschaft zusammensetzt, dass sie ein Bewusstsein dafür entwickeln, wie sich Religionen und Kulturen vermischt und gegenseitig beeinflusst haben und weiterhin beeinflussen werden, und dass sie Achtung und Wertschätzung dafür entwickeln können, wie Religionen und Kulturen den europäischen Raum, in dem wir gemeinsam leben, bereichern.
Diese und viele damit verbundene Fragen wurden bei einem Seminar in Bad Homburg zu Beginn des Projekts erörtert, bei dem hauptsächlich deutsche Forscher, die sich mit der Beziehung von Religion und Bildung befassen, zusammenkamen. Mehrmals im Verlaufe des Projekts fanden Seminare in Bad Homburg und in Birmingham statt, in denen Umfrageergebnisse und Empfehlungsentwürfe einer größeren Expertengruppe aus den Bereichen Bildung, Religionsstudien und den drei religiösen Traditionen vorgelegt wurden.
Nachdem die abstrakte Theorie in Worte gefasst war, machte sich das Projektteam daran, praktikable Ergebnisse zu produzieren. Uns lag daran, Themenbereiche zu finden, die in die bestehenden Unterrichtsmodelle für Geschichte, Sprache und Literatur sowie Religion integriert werden können. Wir wollten aufzeigen, dass es bereits vielfältige Erfahrungen und Veröffentlichungen gibt, die man zu diesem Zweck nutzen kann, auch wenn man sie nicht im engeren Sinne als "bildend" oder "pädagogisch" bezeichnen würde. Wir sind der festen Überzeugung, viele Pädagogen würden den Unterricht gerne in diese Richtung lenken, sind aber noch nicht selbstbewusst genug, den ersten Schritt zu wagen, weil sie glauben, sie hätten nichtdas notwendige Wissen. Wir hoffen, wir können dazu beitragen, dass sie diesen ersten Schritt tun.
Dazu musste zunächst einmal eine Bestandsaufnahme über die Vielfalt dessen erfolgen, was in europäischen Klassenzimmern tatsächlich gelehrt wird, und gleichzeitig mussten wir uns kundig machen über bestehende Erfahrungen in diesem Bereich. Aus diesem Grund wurden Wissenschaftler damit beauftragt, in acht europäischen Ländern eine Datenerhebung zu betreiben: in Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien (eigentlich nur England), Griechenland, Italien, Schweden und Spanien. Die Wissenschaftler wurden aufgefordert, Berichte über die rechtlichen und institutionellen Strukturen des Bildungswesens zu erstellen, die wichtigsten Dokumente in Zusammenhang mit dem Themenbereich zu finden und ausgewählten Lehrern und Schülern in einer kleinen Anzahl von Schulen Fragebögen auszuhändigen. Wo immer dies möglich war, wurden die Schulen so ausgewählt, dass sie einen guten Querschnitt der verschiedenen Landesteile, unterschiedlichen Klassenstufen oder Altersgruppen und des ländlichen sowie städtischen Raums boten. Es war unvermeidlich, dass wegen der jeweiligen Situation in den einzelnen Ländern die gesammelten Daten nicht immer vollständig vergleichbar sind. Das ist jedoch nicht allzu Besorgnis erregend, da wir nicht unbedingt darauf abzielen, "wissenschaftlich" repräsentativ zu sein. Wir wollen vor allem Momentaufnahmen der Ausgangssituation bieten.
Am Anfang standen die unterschiedlichsten Signale. Zunächst wurden wir in unserer Überzeugung bestätigt, dass das Projekt notwendig ist. Obwohl in vielen der in die Umfrage einbezogenen Länder (und wir wissen von anderen Forschungsunterfangen, dass dies im Allgemeinen so gut wie überall der Fall ist) die offiziellen Curricula Schulunterricht zu den Kernelementen aller drei Religionen vorschreiben, sieht die Praxis leider meist anders aus. In einigen Klassenzimmern wurden sogar Wege gefunden, lediglich Lippenbekenntnisse zu den offiziellen Anforderungen abzugeben und gleichzeitig die Essenz zu umgehen, in anderen Schulen waren die Lehrer zwar durchaus bestrebt, den Anforderungen Genüge zu tun, sie hatten jedoch weder das notwendige Wissen noch das nötige Selbstvertrauen, dies zu ihrer eigenen Zufriedenheit zu leisten. In anderen Schulen bot der institutionelle Rahmen (einzelne Schulleitungen oder die Kultusbehörden) entweder nur geringe oder gar keine professionelle Unterstützung oder sorgte implizit dafür, dass dieser Stoff nicht ernst genommen wurde.
Trotz dieses Hintergrunds machten wir einige überraschende und ermutigende Entdeckungen und Erfahrungen. Es ist klar, dass ein begeisterter und rühriger Lehrer den Unterricht zum Erlebnis machen kann, was wiederum die Schüler begeistert und beflügelt. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Bereitschaft des Lehrers, Unterrichtsmethoden und Unterrichtsmaterial in gedruckter oder audiovisueller Form oder auch im Internet außerhalb der eng definierten Grenzen zu suchen.
Das Hauptergebnis der Datenerhebung war, dass in allen drei abgedeckten Unterrichtsfächern - Religion, Geschichte sowie Sprache und Literatur - die Methodologie für alle drei Religionen tendenziell stereotyp ist. Das Judentum wird meist als "Tragödie" dargestellt. Hier stehen einerseits die Schilderungen des Alten Testaments im Mittelpunkt, andererseits der Völkermord der Nationalsozialisten, gefolgt von der Gründung des Staates Israel und dem seither ständig wachsenden internationalen Druck.
Das Christentum wird ebenfalls in allen drei Fächern behandelt. Im "konfessionellen" Religionsunterricht wird der Stoff weitgehend abgedeckt, doch in den anderen beiden Fächern hängt es von der Wahrnehmung der Rolle des Christentums bzw. von der Perspektive ab: Im Geschichtsunterricht etwa erfolgt eine starke Konzentration auf die Christianisierung Roms und des betreffenden Landes, die Reformationszeit und die Religionskriege. Es wird kein Bezug darauf genommen, welche grundlegenden Auswirkungen die christliche Religion auf die allgemeine Kultur hatte und weiterhin hat.
Der Islam schließlich wird noch selektiver betrachtet als die beiden anderen Glaubensrichtungen. Beim Judentum z.B. erwecken äußerlich sichtbare Symbole wie Feiertage Aufmerksamkeit. Beim Islam wird das Augenmerk immerhin auf die kulturellen Beiträge im Laufe der Jahrhunderte und auf die historischen Wechselwirkungen mit den anderen Religionen gelegt. Natürlich kommen gelegentlich auch der Fall von Spanien und Konstantinopel und die Kreuzzüge zur Sprache.
Doch es gibt auch Positives zu berichten. Alle Befragten wurden gebeten, Beispiele "guter Praxis" zu nennen. Diese konzentrieren sich tendenziell auf den Unterricht über das Christentum, und es gibt eine Reihe von Fällen, in denen die Entwicklung des Christentums in den Kontext der geschichtlichen Entwicklung des einzelnen Landes gesetzt wurde. Den Schülerinnen und Schülern wurden allgemeine Kenntnisse über das Christentum vermittelt, und die gesellschaftlichen und kulturellen Auswirkungen von Kirche und christlichem Denken auf Staat und Gesellschaft des jeweiligen Landes wurden hervorgehoben. Auch umstrittene Ereignisse, an denen die Kirche beteiligt war, fanden Erwähnung. 3
Die Umfragen förderten zutage, was das Forschungsteam und die Berater schon vermutet hatten: Das größte Problem liegt in der sehr unterschiedlichen Behandlung der drei Religionen, was die Gewichtung angeht. Der Islam taucht in Lehrplänen und Klassenzimmern häufig in einer essentialistischen Form auf: als idealisierter Islam, und zwar in dem Sinne, dass seine Kerndoktrinen (ein Gott und Mohammed als Sein Abgesandter) und die obligatorischen religiösen Praktiken (die "fünf Pfeiler") die Substanz des Unterrichts bilden, wobei einzig die Darstellung der Feiertage, die mit Letzteren in Zusammenhang stehen (`Id al-Fitr und `Id al-Adha), die Gelegenheit bieten, diesen Kernbereich in einen kulturellen Rahmen zu setzen. Die Alternative ist ein kulturell-deterministischer Ansatz - das Phänomen des oft fehlorientierten und manchmal missverstandenen englischen Ansatzes für den Religionsunterricht. Der Ausgangspunkt sind die Sitten und Gebräuche der kulturellen Gemeinschaften, der die Schüler im Klassenzimmer angehören. Die Kinder lernen so z.B. die türkisch-muslimische Praxis des S<,eker Bayram kennen, haben aber keinerlei Möglichkeit, diese in Beziehung zum weiter gefassten Glaubensmuster oder zur Praxis des `Id al-Adha in Ägypten, im Tschad oder in Malaysia zu setzen. Wenn der Islam im Geschichts-, Sprach- oder Literaturunterricht Erwähnung findet, dann als etwas "Fremdes" oder "Anderes", obwohl er im rein geographischen Sinne einmal fester Bestandteil Europas war. Ganz oberflächlich wird der spanische Islam erwähnt - ohne zu verstehen, wie tief greifend sein Einfluss auf die europäische Kulturgeschichte tatsächlich war. Manchmal wird auch die kürzere Episode des spanischen Sizilien angesprochen, die weit in das kulturelle "Unterbewusstsein" des europäischen Humanismus und der darauf folgenden Renaissance hineinreicht. Wenn überhaupt Bezug genommen wird auf das heutige Auftreten des Islam in Europa, dann hauptsächlich als "Problem" im Zusammenhang mit Einwanderung und Minderheiten. Der Islam wird somit als etwas im Kern "Fremdes" oder "Anderes" bestätigt.
Das Judentum ist in diesem Sinne zwar "europäischer" als der "fremdartige" Islam, es leidet jedoch zugleich darunter, dass es im Unterricht und in den Curricula stärker in die europäische Denkweise integriert ist. Das Judentum und die Erfahrungen der Juden gelten als Teil der europäischen Erfahrung. Jeder Versuch, sie anders zu behandeln, weckt die Furcht der Politiker, Lehrplanbeauftragten und Lehrer vor der Vergangenheit. Daher lehnt sich der Unterricht über das Judentum häufig sehr stark an diejenigen Aspekte der jüdischen Geschichte an, in denen Religion, die Gemeinschaft oder der Einzelne am engsten mit dem übergreifenden Muster der europäischen Geschichte und Kultur interagierten. Es ist schwierig, eine eigenständige Darstellung des jüdischen Glaubens, der jüdischen Geschichte und Kultur zu finden. Die Wahl des Zeitalters, das Augenmerk und die Aufmerksamkeit, die Einzelnen gewidmet werden, sind meist durch die Bedenken des christlich-europäischen und nachchristlichen Kontexts geprägt. Was die Religion im engeren Sinne angeht, so tauchen Hallachic-Unterricht (Unterweisung in die religiösen Gesetze), Liturgie und die Rolle des Rabbinats und der Synagoge in den jüdischen Gemeinschaften in Osteuropa und im Mittelmeerraum nicht auf. Das Judentum nach 1945 und der Staat Israel sind untrennbar miteinander verbunden, und das geht auf Kosten wichtiger religiöser und säkularer Entwicklungen in den jüdischen Gemeinschaften. Sobald man über den "jüdischen Beitrag" zur europäischen Kultur spricht, ergibt sich folgendes Problem: Wie behandelt man - und wie kategorisiert man - Menschen mit eindeutig jüdischem Hindergrund, deren Beitrag jedoch nicht eindeutig jüdisch ist, sagen wir einmal Karl Marx?
Die Darstellung des Christentums in den Schulen von Ländern, die heute in vielerlei Hinsicht nach-christliche Länder sind, ist schwieriger auf den Punkt zu bringen. Grob gesagt könnte man versucht sein zu sagen, dass das Christentum die gesamte europäische Kultur geprägt hat, selbst noch in der Neuzeit, und zwar in dem Sinne, dass z.B. das System der französischen laïcité eine Reaktion auf die Provokationen der kirchlichen Verteidigung ihrer Vorrechte war. Es ist fast unmöglich, sich eine zeitgenössische Form des kulturellen Ausdrucks vorzustellen, die nicht auf die eine oder andere Art positiv oder negativ durch das christliche Erbe Europas mitgestaltet wurde.
Es wäre sicher absurd, die Rolle des Christentums als religiöse Kultur sui generis in die drei von uns behandelten Stoffbereiche des Lehrplans aufnehmen zu wollen. Wir suchten vielmehr einen Weg nach vorn, wobei feststand, dass eine mangelnde Kongruenz der drei von uns betrachteten Religionen unausweichlich sein würde. Eine zentrale Frage, die sich schon in einer frühen Projektphase stellte, noch mehr aber, als wir uns bemühten, auf der Basis der skizzierten Umfrageergebnisse vorwärts zu kommen, war die Art von Empfehlungen, zu denen dieses Projekt führen sollte. Die Alternativen hießen entweder Empfehlungen pädagogischer Art (Unterrichtsmethoden, Methodik im Klassenzimmer für die jeweiligen Altersgruppen und den jeweiligen kulturellen Hintergrund, Gestaltung des Lehrplans usw.) oder Konzentration auf den Inhalt. Angesichts dessen, dass die erste Alternative, sobald sie über die allgemeine Theorie hinausgeht, sehr länderspezifisch sein muss, einigten wir uns darauf, dass die einzig vernünftige Methode für ein internationales Publikum eine Konzentration auf den Inhalt ist. Wir waren der Meinung, es sei Aufgabe der Experten in den betreffenden Ländern, diesen Inhalt an die jeweilige Situation anzupassen und je nach Bedarf umzusetzen. Den Schwerpunkt auf den Inhalt zu legen eröffnete auch die Chance, auf Lücken in den bestehenden Lehrplänen hinzuweisen.
Das Projektteam nahm eine Reihe von Einwänden gegen die Grundprämissen des Projekts vorweg: 4
Die Hauptergebnisse des Projekts wurden als Empfehlungen und Leitlinien ausformuliert. Die Empfehlungen basieren auf einem Grundsatzpaket und Maßnahmenvorschlägen. Die Leitlinien sind konkrete Vorschläge für den Unterrichtsstoff.
Die Empfehlungen 5 beginnen mit einem allgemeinen Grundsatz: "Die Schüler sollen ermutigt werden, sich grundlegendes und kritisches Wissen der drei Abrahamischen Religionstraditionen anzueignen, da dieses Wissen den Schülern helfen würde, die pluralistische Natur der europäischen Gesellschaft zu sehen und die Unterschiede anzunehmen und zu achten."
Als "grundlegendes und kritisches Wissen" wird die Art von Wissen bezeichnet, die Schülern faktische Informationen über Juden und Judentum, Christen und Christentum sowie Muslime und Islam vermittelt und es ihnen gleichzeitig gestattet, kritisch mit den erlangten Informationen umzugehen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten die Schüler ermutigt werden, essentialistische, stereotype und monolithische Darstellungen der drei Religionen zu hinterfragen, Menschen und Gemeinschaften einschließlich der eigenen Person als mehrschichtige und hybride Charaktere und Identitäten zu verstehen und zu erkennen, dass Unterschiede nicht mit Opposition gleichzusetzen sind. Vor allem im lokalen kulturellen Rahmen ist es nötig, ein Bewusstsein für die Sprache zu entwickeln und die wahrgenommene Verbindung zwischen einer bestimmten Religion und ihren unterschiedlichen kulturellen Sprachen zu lösen.
Schließlich haben wir die Inhalte dessen skizziert, was wir für "grundlegendes und kritisches" Wissen halten. Diese Empfehlung bietet den Rahmen für die erarbeiteten Leitlinien. Damit diese Wirkung zeigen, muss zuvor eine Reihe von Veränderungen stattfinden. Daher gibt das Projekt Empfehlungen unterschiedlicher Ausrichtung:
Die Leitlinien setzen sich aus verschiedenen Abschnitten zusammen, von denen einige noch einmal untergliedert sind, die den Wissensinhalt und einige Quellenangaben umreißen. Die Hauptabschnitte befassen sich mit folgenden Themen: Grundwissen über Islam und Muslime; Grundwissen über Christen und Christentum; Grundwissen über Juden, Judentum und jüdische Geschichte.
Ferner sollte "kritisches" Wissen in Bezug auf Juden und Judentum, Muslime und Islam, Christen und Christentum vermittelt werden. Ohne mich hier allzu sehr in Details zu verlieren, möchte ich abschließend folgende Aspekte dieses von uns geforderten "kritischen Wissens" hervorheben und mit wenigen Beispielen erläutern:
Die Leitlinien nehmen den größten Raum im Hauptbericht ein. 6 Obwohl sie nicht konkret als Syllabus oder Unterrichtsplan ausgearbeitet sind, können sie verschiedene Funktionen übernehmen: Sie können "insgesamt als eine Richtschnur oder Lehrplanschablone dienen für die Kenntnisse, die sich die Schüler über Juden und Judentum, Muslime und Islam und Christen und Christentum bis zum Ende der Schulpflicht in ihren jeweiligen Ländern angeeignet haben sollten. Sie wollen als Vorschläge für Zusatzstoff verstanden werden, den Lehrer nutzen und in die bestehenden Lehrpläne einbinden können. Sie sollten als Vorschläge für Stoff verstanden werden, der in die Curricula von Lehrerausbildungsinstituten einfließen könnte" 7 .
1 'Vgl. für
die Einzelergebnisse Lisa Kaul-Seidman/Jࣺrgen S.
Nielsen/Markus Vinzent, Europäische Identität und
kultureller Pluralismus: Judentum, Christentum und Islam in
europäischen Lehrplänen. 2 Bde.: Empfehlungen und
Ergänzung; Länderberichte, Herbert-Quandt-Stiftung, Bad
Homburg 2003. Das Handbuch `Europäische Identität und
kultureller Pluralismus: Judentum, Christentum und Islam in
europäischen Lehrplänen. Empfehlungen für die
Praxis` und der Ergänzungsband können über die
Herbert-Quandt-Stiftung bezogen werden: Herbert-Quandt-Haus, Am
Pilgerrain 15, 61352 Bad Homburg v.d. Höhe,
www.h-quandt-stiftung.de.'
2 'Vgl. ebd., Empfehlungen, S.
31.'
3 'Vgl. ebd., S. 21.'
4 'Vgl. ebd., S. 39f.'
5 'Vgl. ebd., S. 31 ff.'
6 'Vgl. ebd., S. 42 - 84.'
7 'Ebd., S. 42.'