Wer die Gegenwart begreifen will, muss die Geschichte studieren. Jedes Problem, jeder Konflikt und jede Kontroverse hat letztlich Ursachen, die in der Vergangenheit begründet sind. Doch wie und von wem wird unser Geschichtsbild geprägt? Diese Frage beantwortet der Trierer Geschichtsprofessor und Experte für die Geschichte der Geschichtswissenschaft Lutz Raphael erstaunlich umfassend und fundiert. Er beleuchtet Theorien, Methoden und Tendenzen seines Faches und wählt als zeitlichen Rahmen seiner Geschichte der Geschichtswissenschaft das 20. Jahrhundert, - das "Zeitalter der Extreme".
Raphaels Buch, das nach einer im Sommersemester 1997 gehaltenen Vorlesung entstand, überzeugt durch eine sowohl chronologisch als auch inhaltlich klare Gliederung. Der Autor verliert sich nicht im Dickicht geschichtswissenschaftlicher Richtungen, sondern konzentriert sich bewusst auf die Hauptströmungen der modernen Geschichtswissenschaft. Deren Ursprung datiert er auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Hier sieht er den Übergang von einer oft literarischen und romantisierenden Geschichtsschreibung zur einer verwissenschaftlichten Forschung, die sich in Lehrstühlen, Fachzeitschriften und festgelegten Standards institutionalisiert.
Raphael beschreibt, wie sich die Geschichtswissenschaft mit ihrem Anspruch auf kritische Quellenforschung sowie umfassende Archiv- und Literaturkunde systematisch von volkstümlicheren Formen der historischen Gelehrsamkeit abgrenzt. Er macht aber auch deutlich, dass die wissenschaftliche Geschichtsschreibung im modernen Informations- und Medienzeitalter keineswegs das Monopol auf die Schaffung eines Geschichtsbildes besitzt, sondern mit Schule und Massenmedien konkurrieren muss.
Die Sprache des Autors stellt für den in der Fachterminologie nicht bewanderten Leser eine Herausforderung dar. Diese sollte aber nicht von der Lektüre abhalten. Der besondere Reiz dieses Buches geht von seinem international vergleichenden Ansatz aus, der Kontinuitäten und Brüche in der modernen Forschung aufzeigt und damit deutlich macht, dass Geschichtswissenschaft immer auch eine hochpolitische und von aktuellen Zeitumständen beeinflusste Angelegenheit ist, die nicht nur unser Bild von der Vergangenheit, sondern auch den Blick auf die Gegenwart prägt.
Das wird in der Charakterisierung der in Frankreich begründeten sozial- und mentalitätsgeschichtlich ausgerichteten "Annales"-Tradition ebenso sichtbar wie in der Darstellung der vor allem durch die Sowjetunion forcierten marxistischen Geschichtsschreibung, die Geschichte als gesetzmäßigen und von sozio-ökonomischen Klassenkämpfen geprägten Fortschrittsprozess begriff. Wir erkennen, wie Geschichte, ob nationalistisch oder kommunistisch eingefärbt, im 20. Jahrhundert auch als politisch ideologisierte Legitimationswissenschaft herhalten musste.
Was Raphaels Buch besonders interessant macht, sind die Entwicklungslinien, die er am Beispiel ausgewählter Standardwerke beschreibt. Das ist zum Beispiel der Übergang von der Institutionen- und Ereignisgeschichte zur eher herrschaftskritischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die ganz gezielt auch Methoden ihrer geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Nachbardisziplinen integriert. Und wenn er zeigt, wie die vom Vorbild des westlichen Wissenschaftsbetriebes geprägte Geschichtsforschung langsam, aber sicher aus ihrer national und europäisch orientierten Perspektive in eine immer stärker international und vergleichend ausgerichtete Richtung wechselt, dann wird deutlich, dass auch unser Geschichtsbild von der Globalisierung des 21. Jahrhunderts ebenso beeinflusst wird wie durch die Weltkriege, Diktaturen, und internationalen Konflikte des zu Ende gegangen 20. Jahrhunderts. Thomas Emons
Lutz Raphael
Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart.
Verlag C.H. Beck, München 2003; 293 S., 14,90 Euro