An die Bilder von Bundeswehrsoldaten in den Krisenregionen dieser Welt haben sich die Deutschen mehr oder weniger gewöhnt. Vom Balkan über Djibouti bis Afghanistan, von der Beobachtermission bis zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus: Derzeit dienen rund 7.000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in Krisengebieten auf drei Kontinenten. Die möglichen Einsatzgebiete der Bundeswehr erstrecken sich heute "auf die ganze Welt", wie Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) betont.
Noch vor zehn Jahren hingegen barg die Frage, ob und an welchen - auch bewaffneten - Einsätzen sich die Bundeswehr beteiligen soll und darf, eine gebündelte Ladung innenpolitischen wie verfassungsrechtlichen Sprengstoff. Im Sommer 1994 wurde dann ein vorläufiger Schlusstrich unter die Diskussion gesetzt. Am 12. Juli entschied das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, dass sowohl humanitäre wie auch militärische Einsätze der deutschen Streitkräfte außerhalb des NATO-Bündnisgebietes durch das Grundgesetz gedeckt seien - einzige Bedingung: der Einsatz muss durch die einfache Mehrheit im Deutschen Bundestag beschlossen werden.
Anlass für das so genannte "out-of-area"-Urteil aus Karlsruhe waren Klagen der SPD- und der FDP-Bundestagsfraktionen gegen die Einsätze der Bundeswehr in Somalia (Überwachung des Waffenstillstandes zwischen den Bürgerkriegsparteien und die Verteilung von Hilfsgütern) und auf dem Balkan (Durchsetzung des UN-Embargos gegen Rest-Jugoslawien und Überwachung des Flugverbots über Bosnien). Während der Somalia-Einsatz zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung bereits beendet war, dauerte der Balkan- und Adria-Einsatz der Bundeswehr noch an. In der 150-seitigen Urteilsbegründung stellten die Verfassungsrichter klar, dass sich Deutschland laut Grundgesetz kollektiven Sicherheitssystemen und damit auch internationalen militärischen Verbänden anschließen dürfe. Gleichzeitig rügten sie es allerdings als Verfassungsverstoß, dass die christlich-liberale Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl die besagten Einsätze ohne das Votum des Bundestages in den Jahren 1992 und 1993 verfügt hatte.
Dies holte die Bundesregierung dann zehn Tage nach dem Machtwort aus Karlsruhe nach: In einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages am 22. Juli billigten 424 Bundestagsabgeordnete aus den Reihen der CDU/CSU-, FDP- und der SPD-Fraktion in namentlicher Abstimmung die Einsätze in der Adria und in Bosnien. Mit Nein stimmten lediglich 48 Parlamentarier, 16 enthielten sich der Stimme.
Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) begrüßte in der Bundestagssitzung das Karlsruher Urteil ausdrücklich und sah darin eine Bestätigung des außenpolitischen Kurses der Bundesregierung: "Nach der Wiedervereinigung und Wiedererlangung unserer vollen Souveränität ist die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik voll handlungs- und bündnisfähig. Das gilt im Rahmen der UNO wie für NATO, Europäische Union und WEU." Kinkel benannte zudem drei Grundsätze für zukünftige Auslandseinsätze der Bundeswehr. Erstens müssten sie völkerrechtlich eindeutig zulässig sein, zweitens müsse die Messlatte höher angelegt werden, je höher das Risiko für die Soldaten sei, und drittens seien ein klares Mandat, die Erfüllbarkeit des Auftrages und überzeugendes politisches Lösungskonzept für den Konflikt notwendig. Eine Militarisierung deutscher Außenpolitik werde es nicht geben.
Bestätigt sahen sich jedoch nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die sozialdemokratische Opposition. Rudolf Scharping, damaliger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und SPD-Vorsitzender, betonte, durch den Karlsruher Richterspruch seien endlich die Rechte des Bundestages geklärt worden - die Bundeswehr bleibe ein Parlamentsheer. Harsche Kritik übte Scharping am Verhalten der FDP: "Herr Bundesaußenminister, wenn ich es richtig weiß, ist ihre Partei diejenige gewesen, die es in der deutschen Parlamentsgeschichte als erste und bisher einzige fertiggebracht hat, in einer Regierung bei Entscheidungen dabeizusitzen und mit ihrer Bundestagsfraktion gegen die gleichen Entscheidungen zu klagen."
Auf Ablehnung stießen die Bundeswehreinsätze vor allem bei der PDS und den Grünen. Doch während die Sozialisten bis heute alle Formen militärischen Eingreifens zur Eindämmung von Konflikten ablehnen, setzte bei den Grünen - verstärkt nach dem Einzug in die Bundesregierung 1998 - eine heftige Diskussion ein, die die Partei im Falle der Bundeswehrbeteiligung am Kosovo-Krieg im selben Jahr vor die Zerreißprobe stellte. Alexander Weinlein