Wer sich 1949 an eine Prognose gewagt hätte, in welcher Verfassung sich ein Jahrzehnt später die gerade gegründete Bundesrepublik befinden würde, der konnte aus einem weiten Spektrum von Szenarien wählen, die alle realistisch erschienen. Vier Jahre nach der "Stunde Null" war die Entwicklung der jungen Demokratie, der zweiten auf deutschem Boden, kaum berechenbar. Umso erstaunlicher fiel 1959 die erste große Bilanz aus. Auch wenn sich außenpolitisch der Kalte Krieg verschärfte - in West-Deutschland standen die Zeichen auf Normalisierung: Im Herbst jenen Jahres verabschiedete sich in Bad Godesberg die SPD vom Ziel des Sozialismus; die erste israelische Studentengruppe, die Deutschland nach 1945 besuchte, traf in West-Berlin ein; in der Nähe von Düsseldorf wurde wenige Monate vorher erstmals ein Radargerät zur Geschwindigkeitskontrolle im Straßenverkehr eingesetzt; und in Bonn wollte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier am 15. September einen Blick zurück werfen "in die Tiefen und Niederungen, aus denen wir emporgestiegen sind, und dessen eingedenk zu sein, was uns an Glück widerfahren, an Gnade zuteil geworden ist".
Gerstenmaier sprach bei einer gemeinsamen festlichen Sitzung von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung im geschmückten Plenarsaal des Bonner Bundestages. Anlass dieses Staatsaktes war nicht nur das zehnjährige Bestehen der Republik, sondern auch der politische Abschied von einem Mann, der wie kein anderer das internationale Ansehen des Staates aufpoliert hatte: Bundespräsident Theodor Heuss schied nach zehn Jahren aus dem Amt; den Vorschlag, ihm durch eine Grundgesetzänderung weitere fünf Jahre an der Staatsspitze zu ermöglichenin, hatte er zuvor abgelehnt. Sein bereits am 1. Juli gewählter Nachfolger Heinrich Lübke leistete während des Festakts den Amtseid.
Gerstenmaier war es vorbehalten, den ersten - und pathetischsten - Rückblick zu vollziehen. Der Bundestagspräsident dankte all jenen, die sich für den Wiederaufbau Deutschlands eingesetzt hatten, namentlich Bundeskanzler Adenauer und "die von ihm geführten Regierungen"; er würdigte auch und gerade das Wirken der Opposition im Bundestag: "Wenn sich in diesen zehn Jahren ein demokratisches Staatsbewusstsein in Deutschland entwickelt hat, so ist das der parlamentarischen Opposition mit zu verdanken." Gerstenmaier forderte - wie das in jenen Jahren zum guten Ton in politischen Reden gehörte - die Wiedervereinigung; für "ganz Deutschland", und eben nicht nur die Bundesrepublik, bestehe man auf "Freiheit und Recht". Schließlich sei der freiheitliche Rechtsstaat "das edelste Gut, dessen wir nach den Jahren der Verführung und des Terrors wieder teilhaftig geworden sind". Und er pries Theodor Heuss, der vor dem "düsteren Hintergrund unserer Geschichte der Lauterkeit des deutschen Namens in der Welt redlich gedient habe". Seinem Amt habe er "Rang und Ansehen" gegeben.
Heuss hielt die heiterste der vier Reden: Im Anspielung auf die Tatsache, dass er offiziell bereits zwei Tage vorher sein Amt übergeben hatte, sprach der Professor mit feiner Ironie über das mögliche "Seminarproblem", das seine Anwesenheit bei diesem Festakt einigen "verfassungsrechtlichen Interpretations-Spezialisten" bereiten könnte; und sein schwäbelnder Ausdruck: "Aber das ist auch wurscht" in anderem Zusammenhang wurde mit Heiterkeit quittiert. Seinem Nachfolger, mit dem er "manches gute, ernsthafte, männliche Gespräch" geführt habe, attestierte Heuss in gewohnt akademischem Ton die Fähigkeit, "die Kontinuität unseres staatlichens Seins" sichern zu können.
Wilhelm Kaisen, zu jener Zeit Präsident des Bundesrates, verglich Theodor Heuss mit dem ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik Friedrich Ebert. Deren beider "Wirken und Wollen war getragen von ihrer engen Verbindung mit der Ideenwelt der deutschen Demokratie". Er zeigte sich "nicht ohne Zuversicht", dass der neue Bundespräsident seine Aufgabe, "ein freies Deutschland formen zu helfen von Bürger zu Bürger, von den Ländern zum Bund", erfolgreich erfüllen werde.
Auch Heinrich Lübke legte in seiner Rede ein Bekenntnis zur Wiedervereinigung ab; er sprach zudem über seinen politischen Werdegang und die Ansprüche, die an öffentliche Ämter in einer Demokratie gestellt würden: "Ein Amt ist recht geführt, wenn diese Verpflichtung des [dem Gemeinwohl] Dienens dem einzelnen Staatsbürger klar erkennbar wird. Sein positiver Eindruck wird sich dann auf den Staat und die Staatsform übertragen." Bert Schulz