Oder den? Opa kommt ins Altersheim. Nach einer Woche besuchen ihn seine Kinder. "Wie gefällt es dir hier?" - "Es ist wunderbar, viel schöner, als ich erwartet habe", antwortet Opa, "die Leute sind so lieb zu mir." - "Du wirst also gut behandelt?" - "Von gut kann keine Rede sein, sie verehren mich. Schaut euch den Mann da drüben am Tisch an. Der war vor 20 Jahren Arzt. Und sie sagen noch immer Professor zu ihm. Und der Mann da am Fenster, der war mal Dirigent. Alle rufen ihn Maestro, obwohl er seit 30 Jahren nicht mehr dirigiert hat. Und wisst Ihr, wie sie mich nennen? The fucking Jew! Obwohl ich seit 40 Jahren keinen Sex mehr hatte!"
Natürlich ist der zweite Witz anders gestrickt als der erste, vielschichtiger, komplexer. The fucking Jew meint eben nicht in erster Linie einen sexuell aktiven Juden. Dennoch lebt auch der zweite Witz von der Absurdität, die er andeutet: Dass ein alter Mann Sex haben möchte.
Sex im Alter, das ist wie Bob fahren auf Jamaica, oder Bananen züchten am Nordpol oder Telefonieren mit dem Schuhlöffel, ein Ding der Unmöglichkeit oder eben ein Witz. Sex ist das Privileg der Jugend, das "Eintrittsalter" sinkt von Generation zu Generation, in den Boulevard-Magazinen des Fernsehens kann man inzwischen 15-Jährige sehen und hören, die ganz ungeniert erzählen, sie hätten nicht nur bereits viele Erfahrungen gesammelt, sondern auch viele Enttäuschungen erlebt. Ältere Leute dagegen, wie die vor kurzem verstorbene Inge Meisel oder der noch immer putzmuntere Johannes Heesters, reden öffentlich gerne über ihre Enkelkinder, aber nie über ihr Sexleben. Wie in dem Witz, wo sich zwei Rentner im Park treffen. "Was macht die Gesundheit?" fragt der eine. "Alles bestens!" antwortet der andere. "Und der Sex?" - "Kann nicht klagen, jedes Jahr ein neuer Enkel!" Dabei fände ich es interessant zu erfahren, was Johannes und Simone miteinander anstellen, wenn sie nicht das ideale Paar spielen. Ist es wirklich nur so, dass sie ihm aus der Zeitung vorliest und eine Tasse heißer Schokolade vor dem Einschlafen bringt?
Alle mir bekannten Untersuchungen deuten darauf hin, dass zwar die sexuelle Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter abnimmt, aber nicht das Verlangen nach Sexualität. Wobei Männer und Frauen, die schon immer sexuell aktiv waren, auch als Senioren aktiver sind als Gleichaltrige, die in ihrer Jugend zurückhaltend lebten. Dass Sex hilft, das Leben zu verlängern, ist dagegen eher eine Hoffnung, die sexuelle Aktivität im Rentenalter rechtfertigen soll, eine Übung wie Turnen oder Walking, um den Kreislauf in Schwung zu halten. Wer sich im Alter als sexuelles Wesen outet, ohne dies medizinisch zu rechtfertigen, riskiert es, als "komische Alte" oder "notgeiler Greis" ausgelacht zu werden. Rolf Eden, der Doyen unter den Berliner Playboys, prahlt noch immer mit seinen Affären und Abenteuern, wobei er darauf achtet, dass das Gesamtalter (Eden und Partnerin) nach Möglichkeit gleich bleibt. Während Helga Sophie Götze auf der Straße Flugblätter verteilt und "ficken, ficken, ficken!" in die Menge ruft. Sie wurde 1922 geboren, heiratete mit 20 einen Bank-Prokuristen, hatte mit ihm sieben Kinder und keinen einzigen Orgasmus. 1968 lernte sie im Urlaub auf Sizilien einen Italiener namens Giovanni kennen, der sie sexuell erlöste und ihr bewusst machte, was sie bis dahin versäumt hatte. 1973 hatte Helga Sophia Goetze ihren ersten TV-Auftritt ("Hausfrau sucht Kontakte"), danach erschien sie öfter uneingeladen in diversen Shows, wo sie ihre voluminösen Brüste entblößte und "ficken, ficken, ficken!" schrie. Der Schriftsteller Volker Elis Pilgrim schrieb über sie ein Buch ("Hausfrau der Nation oder Deutschlands Supersau?"), Rosa von Praunheim drehte mit ihr einen Film. Die "primäre Tabu-Brecherin" (Goetze über Goetze) verfasste provokative Gedichte ("Wichsen und wachsen") und gründete in ihrer Charlottenburger Wohnung eine "Geni(t)ale Universität". Seit 1983 steht sie, inzwischen über 80 Jahre alt, jeden Tag ein bis zwei Stunden an der Gedächtniskirche und hält eine "Mahnwache" für die sexuelle Revolution: "Ich habe alle Weihnachtslieder auf Ficken umgeschrieben." Helga Sophia Goetze ist die Urmutter aller Naddels, Veronas und Ramonas, die ihr Werk tapfer fortsetzen, eine Veteranin der befreiten Sexualität, über die sich freilich niemand mehr aufregt. Denn die Provokation von gestern ist die Lachnummer von heute, was 1960 noch gewagt und mutig war, ist Anfang des 21. Jahrhunderts bestenfalls peinlich und meistens belanglos. Auch Alice Schwarzer, inzwischen über 60, kommt ebenso wie Eden und Goetze nicht von der Rolle. Und die enorme Beliebtheit der Aufklärerin Ruth Westheimer kommt daher, dass sich niemand vorstellen kann, dass sie die Dinge, über die sie so ungezwungen redet, auch selber tut.
Sex im Alter scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Einerseits ein Grundrecht, eine gesunde Sache und der einzige Zeitvertreib, der von Einkommen, Wetter und Uhrzeit völlig unabhängig ist. Andererseits doch eine heikle Angelegenheit. Will ich mir das Ehepaar, das vor mir an der Aldi-Kasse steht, bei der primären Aktion daheim vorstellen? Nicht wirklich, obwohl mir bewusst ist, dass Sex kein Privileg der Jungen, Schönen und Eleganten ist. Als ich mich vor kurzem bei "Barnes & Noble" in Georgetown nach Büchern über "Sex and old people" erkundigen wollte, druckste ich rum, als würde ich in einer Apotheke nach einer Großhandelspackung Kondome fragen. Die junge Frau am "Information Desk" aber fand nicht den Sex-Teil meiner Anfrage anstößig, sondern die "old people". Sie tippte "sex and seniors" in ihren Computer ein.
Erstaunlicher als meine Verlegenheit war das Ergebnis der Recherche. Bei "Barnes & Noble", wo zu jedem Thema Dutzende von Titeln in den Regalen stehen, gab es kein einziges Buch über "sex and seniors", der Computer zeigte zwei Titel an, die erst bestellt werden mussten: "How to be ,Hot' at Sixty" von Effie Velardo, einer Mutter von sieben Kindern, die 41 Jahre verheiratet gewesen war. Als sie sich mit 60 scheiden ließ, war sie "pleite, übergewichtig und verzweifelt", bevor sie sich in eine "attraktive, vitale, beliebte und erfolgreiche Frau" verwandelte. Genau genommen, war es kein Buch über Sex im Alter, nur eine Gebrauchsanweisung für späte Selbstfindung. Das andere Buch war schon näher an der Sache: "Still Doing It - Women & Men Over 60 Write About Their Sexuality", eine Sammlung von 34 Aufsätzen über späte Liebe, Erektionsschwäche, Selbstbefriedigung, Pornografie und Sexspielzeuge.
Aber auch da stand nur das drin, was in jedem Ratgeber für Heranwachsende steht: Dass man miteinander kommunizieren soll, dass Alter ein subjektives Gefühl und dass es nie zu früh oder zu spät ist, Neues auszuprobieren. Nur Sätze wie "Having a lot of sex is good for the prostate" stellten den Zusammenhang zur Zielgruppe her.
Als nächstes versuchte ich es bei "Google". Ich gab "sex and seniors" ein, und in weniger als einer Sekunde wurde mir mitgeteilt, dass es 831.000 Einträge zu diesem Thema gibt. Ich rechnete nach: Wenn ich für jeden Eintrag nur eine Minute brauchen würde, wäre ich 577 Tage beschäftigt, 24 Stunden täglich ohne Pause. Bei einem normalen Acht-Stunden-Tag und einer Fünf-Tage-Woche müsste ich fast sieben Jahre schaffen und wäre mit 65 fertig, was insofern praktisch wäre, als ich unmittelbar nach dem Ende der Recherche in den Ruhestand übergehen könnte. Unter den ersten Einträgen fand ich "www.seniorsite.com" mit vielen praktischen Ratschlägen; auf einer anderen Website fand ich ein Interview, das Betty Friedan, die Mutter der amerikanischen Frauenbewegung, 1995 dem Spiegel gegeben hatte. Damals schon 73, redete sie über Sex wie ein Gärtner über seine Pflanzen: Was man tun muss, damit sie nicht austrocknen. Hier ein kurzer Auszug aus diesem Gespräch:
Sex ist wichtig, und außerdem wissen wir heute aus der Forschung, dass Männer und Frauen sexuelle Wesen bleiben können, solange sie leben. Gut, die Männer in unserem Alter sind entweder tot oder verheiratet. Vielleicht muss man ja revolutionäre Gedanken entwickeln, an Tabus gehen: Vielleicht teilen sich mehrere Frauen einen Mann. Oder sie finden doch jüngere Partner. Oder sie tun sich selbst zusammen, als lesbische Beziehung.
Spiegel: Wir bleiben dabei: Männer müssen nicht nach neuen Modellen fahnden, sie haben es leichter.
Friedan: Sie täuschen sich. Denken Sie an Alfred Kinsey, der sagte: Der Mann ist mit 17 ungefähr auf seinem Höhepunkt. Stellen Sie sich doch mal den emotionalen Stress vor, den so ein alter Mann mit einer 20-jährigen hat. Der Machismo fordert: Du musst die anderen Typen niedermachen. Das ist gar nicht so einfach mit 60. Du musst wettbewerbsfähig sein, den Potenznormen genügen, und das ist verflixt schwierig. Selbst wenn er mit einer superjungen Frau im Bett liegt, hat er ganz schön Probleme, die sexuellen Standards zu erfüllen. Und das ist das schmutzige kleine Geheimnis, über das Männer nicht reden.
Spiegel: Also ist es doch nicht soweit her mit den Freuden des Alters?
Friedan: Tatsache ist: Man kann viel mehr Spaß am Sex haben.
Spiegel: Wie bitte?
Friedan: Ja, aber man braucht weniger davon. Alte Leute haben es nicht dauernd nötig, aber wenn es passiert, dann kann man es mehr genießen. Weil man im Alter mehr und mehr zu sich selbst findet, sich nichts mehr vormacht.
Spiegel: Glauben Sie das wirklich?
Friedan: In meinen Interviews habe ich festgestellt, dass sich die Leute im Alter weniger um das kümmern, was die anderen denken.
Dass es sehr angenehm sein kann, wenn man das Rattenrennen hinter sich hat und mehr in sich ruht und die Chancen wahrnimmt, ein neues, interessantes Leben zu führen. Das fand ich mehr als tröstlich. Tatsächlich ist die Zeit über 60 ideal für reifen, stressfreien Sex. Man hat mehr Zeit (und oft mehr Geld), kann morgens ausschlafen, die Kinder sind aus dem Haus und die eigenen Eltern können einem nichts mehr verbieten. Man muss nicht ins Autokino fahren, um ungestört zu sein und keine Diskussionen führen, ob sie die Pille nehmen oder er ein Präservativ benutzen soll. Das sind die Vorteile: Der einzige Nachteil ist: Es ist nicht mehr so aufregend wie mit 20, als die BHs neu erfunden wurden. Andererseits: Was ist schon die Aufregung wert, wenn man sich blamiert, weil man auf dem Rücken nach dem Verschluss sucht, der zum Brustbein verlegt wurde?
Henryk M. Broder ist Autor des "Spiegel" und lebt in Berlin.