Das Parlament: Herr Müntefering, woran bemerken Sie Ihr eigenes Alter?
Franz Müntefering: Man sieht das selbst gar nicht so, wenn man in der Zeitung die Altersangabe hinter dem eigenen Namen liest. Wieso schreiben die das dazu, frage ich mich dann. Wenn man älter wird, fühlt man sich jünger, als man dachte. Das Alter wird selbstverständlicher. Deshalb lebt man ganz normal, was auch Mut macht.
Das Parlament: Gibt es Vorzüge des Alters - beispielsweise mehr Gelassenheit?
Franz Müntefering: Gelassen war ich eigentlich schon immer. Erfahrung zählt. Aber man kann nicht mehr so schnell laufen. Das ärgert mich, wenn man so langsam ist und durch den Tiergarten läuft, und es kommen junge Frauen vorbei, die einen locker überholen können.
Das Parlament: Die Altersdebatte wird in der Politik und Gesellschaft als Angst- und Opfer-Debatte geführt. Hat eine alternde Gesellschaft mehr Risiken als Chancen?
Franz Müntefering: Leben ist immer gefährlich, das junge oder das alte. Ich finde das völlig falsch, das Ganze so angstbesetzt zu diskutieren. Eine Gesellschaft verändert sich, das hat Konsequenzen, aber nicht nur negative. Es gibt den schönen Vorteil, dass wir länger leben. Weniger als zehn Prozent der 85-Jährigen haben dauerhafte Hilfe nötig - wer wurde früher 85? Wenn man im Alter eine relative soziale Sicherheit hat, geht das gut. Das haben heute die allermeisten Menschen, und das wird auch die nächsten Jahrzehnte so bleiben.
Das Parlament: Wo liegen denn die Chancen?
Franz Müntefering: Dass die Menschen nicht mehr mit 50, 55 Jahren in Rente geschickt werden. Dass sie noch aktiv sind, wenn sie in den Ruhestand gehen. Dass sie gesund altern und im Alter in der Gesellschaft eine Rolle spielen. Viele tun das auch. Alte gehen ins Studium, was es früher so nicht gegeben hat, und sie werden noch gebraucht. Firmen stellen wieder Ältere ein. Ältere werden als Mentoren eingeladen, Jüngeren zu helfen.
Das Parlament: Es gibt die Sorge, dass Wachstum in einer schrumpfenden und älter werdenden Gesellschaft nicht mehr generiert werden kann. Bereitet sich die Politik darauf vor?
Franz Müntefering: Ein Drittel erwirtschaften wir durch Export, das kann noch mehr werden: Die Menschheit wächst bis 2050 um etwa 50 Prozent auf 9,3 Milliarden. Viele Wachstumsländer sind dabei, die unsere Handelspartner sein können. Eine älter werdende Gesellschaft arbeitet länger und gibt auch mehr Geld aus und trägt den Binnenmarkt mit. Im Gesundheitsbereich gibt es Wachstumspotenzial. Man wird zunehmend in die Gesundheit investieren, da werden mehr Menschen beschäftigt sein.
Das Parlament: Wird die Gesellschaft an Innovationskraft verlieren?
Franz Müntefering: Da gibt es viele Mutmaßungen. Die 55- und 60-Jährigen laufen nicht mehr so schnell wie 25-Jährige, aber sie haben Wissen, Erfahrung, Können und Teamfähigkeit. Man wird im Alter nicht automatisch dumm. Auch nicht unfähig zur Innovation. Die Geschwindigkeit spielt eine andere Rolle, aber das muss nicht negativ sein. Denn Alte machen dann vielleicht auch weniger Fehler, gehen gelassener und vorsichtiger an die Dinge heran.
Das Parlament: Karl Lauterbach befürchtet, dass durch ein stärker steuerfinanziertes soziales Sicherungssystem die Rentnerlobby zuviel Macht gegenüber Politikern bekommt.
Franz Müntefering: Das kommt darauf an, wie extrem man das sieht. Ich glaube, dass wir die Sozialversicherungen immer mehr als eine vernünftige Mischung aus Beiträgen, Steuern und eigener privater Vorsorge verstehen müssen.
Das Parlament: Wie müssen sich die Alten verändern?
Franz Müntefering: Die ganze Gesellschaft muss sich ändern, nicht nur eine Generation. So wie wir heute Vereinbarkeit von Familie und Beruf suchen, werden wir auch Vereinbarkeit von Pflege und Beruf haben müssen.
Das Parlament: Muss dass, was von Jüngeren heute gefordert wird - auch für die jungen Alten gelten: Flexibel, mobil zu sein, Städte zu wechseln und immer wieder neu anzufangen?
Franz Müntefering: Das ist doch schon jetzt so. Es stimmt doch gar nicht, das diejenigen, die jetzt 50 oder 60 sind, so starr und unflexibel wären, wie das unterstellt wird. Meine Eltern hatten einen Lebensradius von fünf Kilometern - so weit konnten sie gehen. Zu Fuß in die Schule, zur Firma, zur Kirche. Heute bewegen wir uns tagtäglich über Hunderte von Kilometern, die Menschen ziehen leichter um.
Das Parlament: Ostdeutschland hat ein besonderes Problem: Wie wollen Sie verhindern, dass es zum vorausgesagten Altersheim der Republik wird, weil immer mehr junge Menschen wegziehen?
Franz Müntefering: Wenn es Wachstum gibt, werden auch Junge wieder dorthin gehen. Der Osten holt langsam auf, der Exportanteil ist gestiegen. Die Produktivität ist deutlich besser geworden. Da die Menschen dort längere Arbeitszeiten haben als im Westen, sind die Lohnstückkosten niedriger. Wir müssen Wachstumsregionen stärken, damit sie ausstrahlen und wie Magnete wirken - wie Frankfurt, München und Hamburg im Westen.
Das Parlament: Wenn die Menschen künftig länger arbeiten werden, wann kommt die entsprechende Gesetzesänderung?
Franz Müntefering: Es gibt die ersten verifizierbaren Entwicklungen, dass die Menschen später in Vorruhestand gehen. Wir haben ein Gesetz gemacht, wonach nicht mehr solange "Arbeitslosengeld I" für die Älteren gezahlt wird. Im Jahr 2008 ist das mit den 32 Monaten Arbeitslosengeld vorbei. Diejenigen Betriebe und Beschäftigten, die heute die lange Zahldauer des Arbeitslosengeldes mit einkalkulieren, werden das nicht mehr machen.
Das Parlament: Sie haben heute die 55-Jährigen im Blick, aber es geht doch um die Frage, ob die Altersgrenze von 65 Jahren und eine Zwangsverrentung noch zeitgemäß ist? Altersforscher sagen, dass ein heute 65-Jähriger so gesund ist wie ein 55-Jähriger früher.
Franz Müntefering: So fühle ich mich auch. Aber wir müssen unten anfangen. Es nützt ja nichts, wenn wir das Renteneintrittsalter auf 67 erhöhen - und die Leute gehen mit 59 raus. Wir müssen verhindern, dass die Menschen zu früh aus dem Berufsleben ausscheiden. Deswegen verkürzen wir das Arbeitslosengeld. Das klingt hart, gerade für einen Sozialdemokraten. Aber es hat den Zweck, die Personalpolitik der Unternehmen zu verändern.
Das Parlament: Im ersten Regierungsjahr hat ihre Koalition noch die "Rente ab 60" gefordert.
Franz Müntefering: Das hatten wir Mitte der 80er-Jahre alle gelernt und geglaubt, das sei vernünftig. Vorruhestand als verkappte Arbeitslosigkeit - das war falsch, dazu stehe ich.
Das Parlament: Und wann wollen Sie über die obere Altersgrenze anfangen zu sprechen?
Franz Müntefering: Ich glaube, dass man in diesem Jahrzehnt ganz sicher noch eine Debatte führt, wie das weitergehen soll. Ich bin dafür, nicht einfach eine neue Zahl zu nennen. Ich will mehr Flexibilität. Ich stelle mir einen Korridor zwischen 63 und X vor, in dem man in Rente gehen kann. Je nachdem, wann einer angefangen hat zu arbeiten, welche Art von Arbeit er gemacht hat und wie belastbar er noch ist. Ich habe etwas gegen den festen Tag, an dem man Rentner wird.
Das Parlament: Welchen Grund gibt es für die Politik, da noch zu warten?
Franz Müntefering: Manches muss man ein bisschen länger überlegen. Die Gedanken sind da, aber die öffentliche Debatte steht noch aus. Das werden wir rechtzeitig machen.
Das Parlament: Eine längere Arbeitszeit im Alter kann dann andererseits zu Verteilungskonflikten gegenüber Jüngeren führen, was die verfügbaren Arbeitsplätze angeht - wie wollen Sie das verhindern?
Franz Müntefering: Zunächst muss sich das Bewusstsein verändern, dass es wieder selbstverständlich ist, wenn ein 64-Jähriger noch mitmischt und berufstätig ist. Man kann die Renteneintrittsalterfrage nicht an der Menge der Arbeit ausrichten. Das müssen die Generationen gemeinsam tragen. Das Ganze zeigt nur, dass es wenig Sinn hat, die Wochen-Arbeitszeit der Einzelnen zu verlängern, wie es jetzt Mode ist zu fordern.
Das Parlament: In der aktuellen Debatte um die Sozialreformen geht es oft um Generationengerechtigkeit. Verlaufen die Konfliktlinien der Zukunft zwischen Alt und Jung oder zwischen Arm-Reich, Gebildet-Nichtgebildet, Erben-Nichterben?
Franz Müntefering: Am wenigsten zwischen den Generationen. Ich bin sehr skeptisch gegenüber dem Begriff der Generationengerechtigkeit. Es gibt reiche Alte und arme Alte, das gleiche gilt für Junge. Je nachdem, wie und wo man lebt, was man kann oder nicht kann, hat man unterschiedliche Lebenschancen. Das Wichtigste ist wahrscheinlich die Frage der Bildung.
Das Parlament: Bildung schützt nicht vor Einkommenseinbrüchen, Arbeitslosigkeit in konjunkturschwachen Phasen.
Franz Müntefering: Daran müssen wir uns gewöhnen. Wir müssen uns die Vorstellung abschminken, dass eine gute Ausbildung garantiert, ein Leben lang gut zu verdienen. Das Senoritätsprinzip bleibt auf der Strecke: Je älter ich bin, desto weiter oben bin ich - das gilt nicht mehr automatisch. Das ist dieses beamtenhafte Denken, was wir in Deutschland tief verinnerlicht haben. Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass jeder Beruf ehrenwert ist, auch wenn man weniger Bildung braucht oder sich dreckig macht dabei.
Das Parlament: In der Diskussion um die Alternde Gesellschaft gibt es die These, dass sich künftig soziale Ungleichheit verschärft. Alarmiert Sie dieser Befund?
Franz Müntefering: Es wird viel vererbt werden in den kommenden Jahren. In der Tat ist das eine Frage des Zufalls, die manchem günstigere Ausgangspositionen gibt. Früher war das so, dass das Vermögen der Familie Voraussetzung für erstklassige Bildung war. Das gab lebenslange Sicherheit. Die ist weg, da kann Politik nicht großartig eingreifen. Die Erbschaftssteuer wird überarbeitet werden. Aber ich empfehle, da nicht allzu viel an Geld zu erwarten, weil es Freiräume geben muss für Wohneigentum und Betriebe. Die dürfen nicht in der Übergangsphase kaputt gehen, indem man sie mit einer hohen Erbschaftssteuer belegt.
Das Parlament: Auch im Gesundheitssystem wird der soziale Status eine Rolle spielen. Reiche können gesünder älter werden - muss da die Politik eingreifen?
Franz Müntefering: Das ist heute schon so und reicht bis zur Ernährung. Bestimmte Gruppen verhalten sich gesundheitsbewusster als andere. Das tun die, die es sich leisten können und die da bewuss-ter sind. Das wird zunehmen. Es wird eine erhebliche Differenzierung geben zwischen denen, die finanziell gut gestellt sind, und denen, die schlecht dastehen. Wir müssten den Armen etwas geben. Was können wir da tun? Dass sie Arbeit haben und mehr Bewusstsein für ihre Gesundheit. Da muss man in der Schule anfangen und in der Familie.
Das Parlament: Es gibt die fiktive Rechnung, dass man 30 Millionen Zuwanderer in den nächsten Jahrzehnten bräuchte, um die Kinderarmut und die älter werdende Gesellschaft auszugleichen.
Franz Müntefering: Wir können das, was fehlt, nicht voll durch Zuwanderung ausgleichen, sogar nur zum geringeren Teil.
Das Parlament: Es gibt zudem gut ausgebildete Eltern, die wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder nicht soviel arbeiten können, wie sie wollten. Reicht da Ihr Konzept, bis 2010 eine Betreuungsquote von 20 Prozent der kleinen Kinder anzupeilen?
Franz Müntefering: Wir haben drei große stille Reserven: Die gut ausgebildeten Mütter, die Jungen unter 25 und die Alten über 55. Insofern ist der Bedarf an Arbeit übrigens auch größer, als die offizielle Arbeitslosenquote aufzeigt. Wir brauchen langfristig das Wissen und das Können aller drei Gruppen. Wir haben bei den 20 Prozent Betreuungsquote noch den wütenden Protest der Union erlebt im Bundestag. 20 Prozent sind der Anfang. Wir haben das Gesetz aufteilen müssen, damit wir überhaupt etwas umsetzen konnten über den Bundesrat.
Das Parlament: Reden Politiker Ihrer Generation über die eigene Prägung, als Wirtschaftswunder-Generation im Vergleich zu den Nachkommen begünstigt zu sein?
Franz Müntefering: Wir sind uns dessen bewusst. Die schwierigste Politiker-Generation ist meine, die zwischen 55 und 70. Diese Altersgruppe geht von einem klaren Wachstumsprinzip aus, dass es immer vorangeht und mehr erwirtschaftet wird. Denen zu sagen, wir müssen umdenken, trifft auf viel Skepsis. Die Jüngeren gehen damit selbstverständlicher und beweglicher um.
Das Parlament: Fühlen Sie sich schon abgehängt als älterer Parlamentarier?
Franz Müntefering: Nicht in meiner Position. Ich habe das Gefühl, dass wir mit den unterschiedlichen Generationen gut klarkommen, ich suche den Kontakt und die Zusammenarbeit mit Jüngeren.
Das Parlament: Wenn Sie an ihre Enkelgeneration denken, welche Probleme werden die mit 70 bewältigen müssen?
Franz Müntefering: Mal vorausgesetzt, es bleibt friedlich und wir machen eine einigermaßen vernünftige Politik, dann wird Deutschland ein Wohlstandsland bleiben. Die Frage ist, ob wir die Bildungschancen so verteilen können, dass wir auf dieser Basis Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse schaffen. Es kann sein, dass die Gesellschaft sich mehr individualisiert und die Schwachen abstößt, die hängengeblieben sind. So kann man auch leben, aber das wollen wir nicht. Ich glaube, es liegt eine sozialdemokratische Aufgabe darin, dass wir die Grundidee von Sozialstaat nicht aufgeben dürfen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass das Gefälle zwischen den Starken und den Schwachen nicht dramatisch wird.
Das Interview führte Corinna Emundts.