Die Alterung unserer Gesellschaft hat zwei Teile. Der erste Teil ist das Fehlen von Kindern, was zweifellos negativ ist. Es lässt sich aber auf einen ganz klaren Ursachen-Kern, einen Schlüsselmoment zurückführen. Es ist weder der Wertezerfall, noch der Egoismus der Jungen, noch die Spaßgesellschaft, die unsere Geburtenraten nach unten getrieben haben. Das hartnäckige Tief der Geburtenraten hat seine zentrale Ursache im ständig steigenden Bildungspotenzial der jungen Frauen. Höhere Bildung beinhaltet immer eine Option auf die Realisierung dieses Potenzials in der Erwerbsarbeit - und die jungen Frauen wollen, wie wir aus vielen Studien wissen, auch von dieser Option Gebrauch machen. In unserer Gesellschaft ist diese Realisierung jedoch unmöglich, wenn man Kinder hat. Dies wurde unlängst von unserer Familienministerin zum ersten Mal so formuliert. Tatsache ist: In unserer Gesellschaft gibt es heute nicht wesentlich mehr Einzelkinder als früher. Es existiert jedoch eine Bildungsspezifische Spaltung der Fertilität. Hoch gebildete Frauen, und das sind in den Ballungsgebieten bereits über 40 Prozent, bekommen zu 50 Prozent keine Kinder mehr.
Es ist also im Grunde ganz einfach, die Geburtenrate wieder zu erhöhen. Wir müssen nur einen Blick auf die europäischen Nachbarländer werfen, in denen die Geburtenraten hoch sind.
Ganztagsschulen: In allen geburtsstarken Ländern (Frankreich, Skandinavien, Großbritannien, einige kleinere Länder) ist die Ganztagsschule das Norm-Modell. Zu zwar etwas höheren, aber nicht massiv höheren Gesamt-Bildungskosten.
Billige Dienstleistung: In den Gesellschaften, in denen keine starken staatlichen Transferleistungen bei der Kindererziehung existieren (Großbritannien, USA), gibt es zumeist einen reichhaltig entwickelten Service-Sektor, in dem billige und professionelle Dienstleistungen für Familien angeboten werden (Nanny-Services, Kid Cabs, Ferienangebote). Dies entlastet, bei gleichzeitig niedrigeren Steuern, die Familien.
Ein anderes Mutterbild: Wir leben in unserem Kulturkreis mit einem "Kinder- und Mutter-Mythos", der von beiden das Äußerste fordert. Kinder sind Projekte, Heilige und Zumutungen zugleich. Das hängt einerseits mit nachwirkenden religiösen Menschenbildern zusammen - mit dem Mutterbild im Katholizismus etwa. Es hängt aber auch an einer Tradition von romantischer Verklärung der Kindheit als autonomer Ort, der so lange wie möglich vor den Unbilden der Umwelt geschützt werden muss.
Ein anderes Vaterbild: Gemeinsame Erziehung zu gleichen Anteilen ist in keinem Land der Erde heute realisiert. Aber immerhin gehen in Skandinavien zwischen einem Viertel und einem Drittel Männer in Karenz, nicht immer ganz freiwillig, aber nicht ohne positives Feedback (Deutschland: circa drei Prozent). Hier kann mehr gestaltet werden, nicht nur gegen die Männer, sondern auch in ihrem neu erwachenden Vaterschaftsinteresse (immerhin sind heute 75 Prozent aller Väter bei der Geburt ihres Kindes anwesend; vor 20 Jahren noch völlig unvorstellbar).
Familienfreundliche Steuern: In Frankreich zahlen Familien nach dem dritten Kind praktisch keine Steuern mehr. Die Geburtenrate liegt im letzten Quartal 2003 bei 1,9 Kinder pro gebärfähige Frau - europäischer Rekord.
Flexibilität in den Unternehmen: Auch in Deutschland gibt es hervorragende Familien-Audits und Teilzeit-Arbeitsverträge für Frauen. Aber unser Steuergesetz und die Tücke der Details verhindern hier eine positive Wirkung auf die Geburtenrate. Bis zu einem mittleren Einkommen von etwa 2.500 Euro gilt die "Halbtagsfalle" (Frauen geben das Geld, das sie verdienen, sofort wieder für Babysitter aus). Der entscheidende Unterschied ist: in Frankreich, Skandinavien und Großbritannien ist man in den Unternehmen an den weiblichen Talenten ernsthaft interessiert. Und zwar überwiegend aus ökonomischen Gründen. Man versucht sie deshalb mit einigem Aufwand, im Betrieb zu halten.
Trotz aller dieser Handicaps kann man optimistisch sein, dass die deutsche Geburtenrate innerhalb weniger Jahre wieder stark steigen wird. Die Debatte ist in Gang gekommen, erste Ergebnisse im Bereich Kindergarten und Ganztagsschule sind sichtbar, die Gesellschaft artikuliert ihr Bedürfnis nach Wandel.
Für Dante begann das Alter mit 45 Jahren. Hippokrates von Kos, der Begründer der Medizin, wurde 56 Jahre alt und war der Überzeugung, dass mit 42 Jahren "die Lebenssäfte aus den Menschen wichen". Ich denke, die Tatsache, dass wir alle heute ein gesegnetes Alter von 80, 90 Jahren erreichen können, ist nichts anderes als ein Geschenk des Fortschritts, das wir annehmen sollten und können. Der Schlüssel hierzu liegt nicht im Demografischen, er liegt auch nicht primär im Ökonomischen. Es geht um die Frage, wie wir eine andere "Kultur des Alterns" erzeugen können.
Zukunfts-Geschichte des Alterns: Warum Menschen alt werden, unterliegt den verschiedensten wissenschaftlichen Interpretationen. Der biologische Darwinismus etwa definiert das Alter eher als eine Art Unfall. Die Evolution "vergisst", unnütz gewordene Organismen zu beseitigen, und deshalb werden wir plötzlich älter, als wir nützlich sind. Neuere Forschungen der Soziobiologie fügen allerdings andere Aspekte hinzu. Die ausgeprägte Langlebigkeit von Frauen könnte einen tiefen evolutionären Sinn haben, weil in der menschlichen Evolution Großmütter eine entscheidende Rolle spielten. Die Menschheit hat sich auch deshalb entwickelt, weil ältere Frauen Erziehungsfunktionen übernahmen und so die jüngeren Frauen für andere Funktionen freisetzten. Es gibt also, neben den biologischen, auch soziale Determinanten, Faktoren und Transfers, die wir in der Altersfrage beachten müssen.
In den agrarischen Gesellschaften haben sich drei grundlegende Muster des generativen Umgangs mit dem Alter herausgebildet.
Der Ahnenkult: In den animistischen und fernöstlichen Familienstrukturen sind die Alten nicht nur bis zu ihrem Tod Familienoberhäupter, sondern auch darüber hinaus. Autorität im Haushalt haben immer die jeweils Ältesten, weil sie den mächtigen Ahnen am nächsten sind. Der Haushalt füllt sich also mit der Zeit mit immer mehr mächtigeren Alten und Toten.
Das Patriarchiale Altern: Besonders in den islamischen Kulturen übt das älteste männliche Familienoberhaupt die Macht bis zu seinem Tode aus. Ziel der Dynastie ist stets eine möglichst große Anzahl von Söhnen. Das führt zu hohen Geburtenraten, radikal getrennten Lebenswelten zwischen den Geschlechtern, und Zwangsheiraten. Es führt auch, ähnlich wie in der Ahnenkult-Kultur, zu eher starren Sozialstrukturen, in denen sich Wandel, Individualität und Differenz nur sehr langsam ergeben.
Das Ausgedinge: Der europäische Weg unterscheidet sich deutlich von diesen Modellen. Er basiert auf einem Kontrakt zwischen der mittleren und der älteren Generation, nach dem die Alten bis zu ihrem Tode zu ernähren sind. Damit verbunden war allerdings der Verlust der Macht auf dem Hof - und eine Differenzierung der Lebenswelt der Älteren und der Jüngeren. Michael Mitterauer beschreibt in seinem Buch "Warum Europa?" diesen europäischen Weg so: "In Ahnenkultgesellschaften haben die den Ahnen am nächsten stehenden Alten eine besonders angesehen Stellung. Im Christentum fehlt jede Begründung dieser Art für einen Altersvorrang in Familie und Gesellschaft. In der europäischen Gesellschaft gibt es kein Senioritätsprinzip. ... Das Ausgedinge basiert auf der Möglichkeit, die Stellung als Hausherr im Alter abzugeben. ... Nicht um Vater und Sohn, sondern um das Gattenpaar erfolgt die Rekonstruktion der Familie."
In Europa, so Mitterauer, entstand durch die gattenzentrierte Familienstruktur die Grundlage von Moderne und Individualismus, weil durch diese Konstruktion Raum für Wandel gesichert wurde. Gleichzeitig werden aber Ältere im Alter "aussortiert" und erleiden einen deutlichen Einflussverlust. Diese archaischen Bilder wirken auf vielerlei unterschwellige Weise in unseren heutigen Altersdebatten nach. Einerseits als Angst, "ausrangiert" zu werden. Andererseits als Befürchtung, die Alten könnten die knappen Ressourcen der Gemeinschaft aufzehren und die gesamte Gesellschaft in den Ruin stürzen.
In Gesellschaften wie Deutschland und Österreich ist die Frühverrentung in den 90er-Jahren in einer Art Zuspitzung dieses Bildes zu einem begehrten Gut, ja einem regelrechten gesellschaftlichen Ideal geworden. Das hat die Vehemenz unserer heutigen Altersdebatte erst richtig zugespitzt. Denn nun kann die Rechnung natürlich nicht mehr aufgehen, die sich im Umlageverfahren des frühen Industrialismus entwickelt hat. Das System steuert tatsächlich auf seinen Ruin hin.
Wir sollten uns aber immer vergegenwärtigen, auf welchen Bildern diese Zuspitzung basiert. Sie ist einerseits ein Produkt der enorm gestiegenen Produktivität der Ökonomie in der Reifungsphase des Industrialismus, mit allen Möglichkeiten - die dies in der Freizeit- und Pensionsgestaltung für den Einzelnen bedeutete. Sie bezieht sich andererseits immer noch deutlich auf jene industrielle Ära, in der Erwerbsarbeit überwiegend körperlich monoton, verschleißend, geistig wenig anregend war.
Um den Teufelskreis aus sinkender Erwerbsbeteiligung der Älteren und zunehmenden Lasten der Jüngeren zu durchbrechen, müssen wir also fragen, was sich heute, an der Schwelle zur Wissensökonomie, in den Lebens- und Arbeitskonstruktionen verändert - und welche Zukunftspotentiale sich daraus ergeben. Ist Arbeit in Zukunft immer noch jene Monotonie, die wir möglichst frühzeitig in Richtung auf selbstbestimmte Freiräume verlassen wollen? Stimmen die Zuordnungen noch, mit denen in der Erwerbsarbeit Menschen in jung/produktiv und "Altes Eisen" eingeteilt wurden? All das stimmt längst nicht mehr, und der Wandel der Bilder und Selbstbilder ist längst im Gange.
Der Wandel des Alterns: Auch in der Werbesprache können wir heute einen deutlichen Paradigmenwechsel wahrnehmen, der sich in veränderten Bildern des Altwerdens ausdrückt. Ältere reisen mehr als früher, kleiden sich modischer und verändern ihr Konsumverhalten. "Oma und Opa werden Hedonisten", titelte die Wiener "Presse" anlässlich einer Studie, die das veränderte Verhältnis der Älteren zu Wohlstand und Konsum untersuchte. In dieser Untersuchung der GFK gaben 68 Prozent der Älteren an, ihr Geld lieber für sich selbst auszugeben als für die Enkel zu sparen.
Die sogenannte "Altersarmut" hat sich über weite Strecken als Angstbild ohne Realitätsgehalt herausgestellt. Natürlich gibt es arme Alte. Aber Altersarmut ist heute vor allem ein Risiko der Frauen, die wenig oder geringe Erwerbsarbeit ausgeübt haben, die ledig blieben oder mit Männern mit geringem Einkommen verheiratet waren. Die verfügbaren Einkommensspitzen sind heute in den Bereich der sechsten Lebensdekade verschoben worden, wo die Älteren von den nun 80-jährigen Eltern erben.
Während die durchgängig von industrieller Lohnarbeit geprägte Generation noch durch ein eher problematisches Gesundheits- und Ernährungsverhalten geprägt war, ist Sport heute ein Thema auch für die 50+-Generation geworden. Man könnte sagen: Die Gesellschaft "übt" das pro-aktive Altern. Das "handicapfreie" Alter wächst in den meisten postindustriellen Ländern stärker als die gesundheitlich eingeschränkte Lebensphase. Die Lebenserwartung in Japan beträgt im Schnitt 83 Jahre. Nur sechs Jahre davon werden statistisch mit "eingeschränkter Gesundheit" erlebt (die europäischen Daten sind etwas negativer). Oder anders ausgedrückt: 75 Prozent der Alten altern erfolgreich - ohne wesentliche, die Lebensqualität einschränkende Handicaps.
Nach ELSA, ("English Longitutinal Study of Ageing, 2002"), sind besonders die "alten Alten" oftmals in erstaunlicher gesundheitlicher Verfassung. 30 Prozent der befragten Männer in den 80ern beschrieben ihre Gesundheit als "sehr gut" oder "hervorragend", weitere 30 als "gut", 20 als "mit Einschränkungen" und nur 20 als "schlecht". Ähnliches gilt auch für die psychozialen Aspekte des Alterns. Altersdepressionen existieren, aber sie sind weit weniger verbreitet als oft unterstellt. In einer 1999-Befragung der AARP antworteten 66 Prozent der 65+jährigen Amerikaner, dass sie in ihrer jetzigen Lebensphase mehr aus ihrem Leben machen können als vorher.
Auf diese Weise entsteht eine komplett neue Lebensphase zwischen 50 und 75, die man auch als "Zweiten Aufbruch" definieren könnte. Hier, wo man sich früher in den Lehnstuhl setzte und langsam auf den "Ruhestand" vorbereitete, kommt es nun zu einer Phase der Neuorientierung.
Durch alle diese Faktoren wird das Alter langsam von seinem Stigma als "Niedergang" entcodiert. Altern wird einerseits subjektiviert, andererseits relativiert. Relativiert, weil viele Menschen nun in der neu entstandenen Aufbruchsphase erst die Dinge tun (lernen), die sie im Laufe ihres Lebens versäumt haben. Hier findet die eigentliche Individualisierungsphase, die Ich-Entdeckung statt. Subjektiviert, weil wir 15 Jahre jünger, aber auch 15 Jahre älter sein können, als unser biologisches Alter es uns vorschreibt.
Folgende fünf Herausforderungen bilden den Kern einer neuen Alterskultur:
Flexibilisierung der Erwerbsspannen: Dass eine andere Erwerbs-Alterskultur möglich ist, zeigen uns Länder wie Island, in denen das mittlere Verbleibsalter im Beruf deutlich über die Jahresgrenze von 65 Jahren hinausgeht. Isländer arbeiten nicht aus ökonomischer Not so lange. Sondern weil Erwerbsarbeit in Island weit gehend bereits wissensökonomisch-kooperatistisch orientiert ist. In fairen Kontrakten, höherer Arbeits-Flexibilität für Familien und Alte. Arbeit ist dort soziales Leben, Selbst-Realisation; eben nicht nur "Lohnabhängigkeit".
Natürlich sind wir in Deutschland noch lange nicht so weit. Aber wir sind unterwegs. In den Unternehmen findet heute ein deutlicher Umdenkprozess statt. Ein Spiegel-Artikel im April 2004 brachte die Beispiele für die Umdrehung der generativen Nachfrage. So hat etwa die Deutsche Bank ein "Elder-Potential"-Programm entwickelt, in dem sie sich um die Wiedereingliederung älterer Mitarbeiter bemüht - nicht zuletzt um deren Erfahrungswissen wieder nutzen zu können.
Ältere lernen genauso schnell wie Jüngere. Mehrere Untersuchungen in den letzten Jahren haben nachgewiesen, dass diesseits von Demenz und Alzheimer die kognitiven Defizite der Älteren eher gering sind. Bestimmte Fähigkeiten - Fachwissen oder soziale Kompetenz - können sich im Alter sogar verstärken.
Ältere sind keineswegs weniger leistungsfähig, sie leisten nur anders. Auch wenn sie manchen stressreichen Job nicht mehr in Zehnstunden-Schicht ausführen können, ist ihre Produktivität sehr gut darstellbar.
Ältere können gerade in einer Welt lebenslangen Lernens wichtige Scharnierfunktionen zwischen dem Alten und dem Neuen ausüben. Piloten können im Simulator junge Kollegen trainieren. Ältere Manager die jungen Leistungsträger von morgen coachen.
"Ageing Economy": Re-Fixierung der Sicherungssysteme: Auch eine alternde und schrumpfende Bevölkerung kann ihren Wohlstand erhalten. Dafür gibt es aber eine strenge ökonomische Bedingung: Die Produktivität muss kräftig steigen. Ein Produktivitätswachstum von zwei Prozent pro Jahr (in den letzten 20 Jahren wurde dies in den Industrienationen annähernd erreicht) bringt eine Verdoppelung des gesellschaftlichen Wohlstands in nur 25 Jahren mit sich. Jeder, der in dieser Zeit spart, Aktien hält, Häuser kauft oder baut, sein Vermögen irgendwie arbeiten lässt, partizipiert an dieser Verdoppelung!
Dass prinzipiell eine andere Grundstruktur der Altersfinanzierung möglich ist, zeigen - bei allen Problemen, die es auch dort geben mag - Länder wie die Schweiz, Schweden, Großbritannien oder die Niederlande. Dort beträgt der Anteil von Lebensversicherungen und Pensionsfonds an den Altersversorgungen das Zehnfache des deutschen Wertes; die stattlichen Rentenbezüge bilden also nur noch eine von drei Säulen, auf denen der Alterswohlstand ruht.
In einer alternden Gesellschaft ist Gesundheit nicht mehr die Abwesenheit von Krankheit. Sondern ein Potenzial, ein "Aktienpaket für Lebensqualität", das sich in "gut gelebten späteren Jahren" - oder eben im Gegenteil - ausdrückt.
Die Grundlagen für Gesundheit im Alter werden durch Verhalten in den frühen und mittleren Lebensjahren gelegt. Deshalb ist die Frage der Altersmedizin nicht separierbar - sie betrifft das gesamte Gesundheitssystem und alle Generationen. Nach wie vor betreiben wir Symptom-Medizin, nach wie vor werden die Kosten durch reine Aufrüstung am "End of Pipe" in die Höhe getrieben.
Ansätze in den Niederlanden können uns zeigen, wie man selbst bei knappen Mitteln die Frage der Lebensführung in den Vordergrund medizinischer Systeme rückt. In den Niederlanden wird, wer mit Rückenschmerzen zum Arzt kommt, nicht oder selten medikamentös behandelt. Es existiert hier ein sanfter, ökonomisch spürbarer Druck in Richtung auf Verhaltensänderung. Dieser Druck, zusammen mit immer komplexeren und individuelleren Dienstleistungen, die die Lebensweisen der Menschen weiter in Richtung Bewegung, gesunde Ernährung, Stress-Management lenken können (vom Ernährungs- bis zum "Holistic Health Coach") wird die Zukunft unserer Medizindebatte prägen.
Es ist falsch, die Generationenfrage auf eine reine Arithmetik der Sozialsysteme zu reduzieren. Reichtum und Wohlstand verteilen sich durch unendlich viele Kapillaren, und das Vertrauenskapital zwischen den Generationen ist nur im Talkshow-Boulevard nahezu Null. Im Gegenteil: Viele Trends in den Lebenswelten weisen sogar auf einen verstärkten intergenerativen Zusammenhalt hin.
Großeltern übernehmen heute, in den erweiterten Netzwerk-Familien, wieder mehr Erziehungsarbeit (zum Beispiel bei Rückzug allein erziehender Frauen in die Nähe des Elternhauses). Ihre Enkel können sie so lange erleben, wie noch nie in der Geschichte.
In den Erbschaften und Schenkungen, die in den nächsten Jahren die gigantischen Ersparnisse der Nachkriegsgeneration umverteilen, transferieren die Älteren einen Großteil des Volksvermögens zurück an die Jüngeren. Und leisten damit mehr als einen kleinen Ausgleich.
Revisionen des Altersbildes: Am Ende wird der Übergang in eine ältere Gesellschaft nur gelingen, wenn wir die Bilder, die wir mit dem Altern verbinden, grundlegend verändern.
Ältere haben keinen negativen Einfluss auf die Gesellschaft. Adenauer brachte die deutsche Gesellschaft auf Erfolgskurs. De Gaulle war über 60, als er in den Elyséepalast kam. Churchill rettete Europa. Ältere Männer und Frauen können gerade in der Politik segensreiche Wirkungen haben.
Alter ist nicht Torheit, ist nicht Demenz, ist auch nicht Starrsinn, sondern - im Sinne einer individuellen Wachstums-Kultur - Reifung und Weisheit. Der Kern der Weisheit, so sagt es der Weisheitsforscher Paul Baltes, besteht im sogenannten SOK-Prinzip. Selektion, Optimierung, Kompensation. Dies erläuterte der 80jährige Pianist Arthur Rubinstein so: "Ich spiele weniger Stücke (Selektion). Ich übe diese häufiger (Optimierung). Und drittens spiele ich vor schnellen Passagen extra langsam - das lässt die langsamen bedeutungsvoller und die schnellen schneller erscheinen (Kompensation).
Gelten diese Prinzipien nur für das Alter? Man kann das SOK-Prinzip auch als "Entschleunigung - Auswahlkompetenz - Konzentration auf das Wesentliche" lesen. Das sind nichts anderes als die Kulturtechniken, die wir in einer komplexen globalen Welt generell brauchen. Eine weisere Kultur kann auch Antworten auf akute gesellschaftliche Fragen formulieren, die uns in den Zeiten des Jugendwahns eher abgingen. "Simplify Your Life" - diese große aktuelle Bewegung, die in Richtung auf mehr alltägliche Lebensqualität zielt, erhält hier einen mächtigen Verbündeten. Auf diese Weise können Alterskultur und Wertewandel in der späten Industriegesellschaft konvergieren - eine Alternative zum viel beschworenen "Clash of Generations".
Welche Rolle kann die Politik bei diesen fünf Generatoren der "Silbernen Transformation" spielen? Letzten Endes geht es um ein gesellschaftliches Projekt, zu dem wir alle unseren Teil beitragen müssen, Alte wie Junge, Männer wie Frauen, Unternehmen wie Arbeitnehmer. Politik kann aber moderieren, sie kann helfen, das Puzzle zusammenzusetzen, die diversen gesellschaftlichen Kräfte zu verbinden. Sie kann dazu beitragen, dass wir das Generations-Kriegsgeschrei ebenso überwinden wie den Lärm der Medien. Dass wir aus "best practice"-Beispielen lernen, die es überall auf der Welt gibt.
Gelassenheit, Reife, Kompetenz. Genau mit diesen Eigenschaften sollten wir die "Silberne Transformation" angehen. Simone de Beauvoir schrieb im Jahr 1970 prophetisch:
"In der idealen Gesellschaft würde, so kann man hoffen, das Alter gar nicht mehr existieren. Der Mensch würde, wie es bei manchen Privilegierten vorkommt, nur unauffällig geschwächt, aber nicht offenkundig vermindert; er stürbe irgendwann an einer Krankheit, ohne eine Herabwürdigung erfahren zu haben. Das letzte Lebensalter entspräche dann einer Existenzphase, die sich von Jugend und Erwachsensein unterscheidet, aber ihr eigenes Gleichgewicht besitzt."
Natürlich ist Altern immer auch eine Zumutung (Karl Lagerfeld: "Eine Demütigung, vor der wir alle gleich sind"). Und wahrscheinlich wird das auch immer so bleiben. Aber sind wir dieser Utopie nicht schon ein kleines, aber doch wichtiges Stück näher gekommen?
Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher, ist Inhaber eines Think-Tanks für strategische Zukunftsberatung mit Sitz im Taunus bei Frankfurt und in Wien. Er gibt den monatlichen "Zukunftsletter" heraus. Aktuell ist im Zukunftsinstitut die Studie: "Female Forces - Der Megatrend Frauen" von Kirsten Brühl erschienen. Info und Bestellung: www.zukunftsinstitut.de.